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NEUE WELT - Ein Fotoprojekt von Edith Held

„Wer erlebt aktuelle Geschichte auf unbefangene Art intensiv? Wer erzählt ehrlich und ist in seiner Schilderung authentisch? Wie kann anschaulicher beschrieben werden, was gerade in der Welt geschieht, als durch Kinder?“. In Fragen verpackte Gedanken bilden die einleitenden Worte im gleichnamigen Bildband zum Fotoprojekt „Neue Welt“ von Edith Held.  

von Özlem Topuz

„Ich bin da drin! Ich bin da drin, hast du mich gesehen?“, ruft ein kleines quirliges Mädchen Mechthild zu, kaum dass diese mit einem Packen dicker Bildbänder unterm Arm die Türschwelle zur Straße betritt. Wir befinden uns im Übergangswohnheim Marienfelde und hatten uns eben noch die Fotoausstellung „Neue Welt“ angesehen. „Ich bin da drin!“, betont das kleine Mädchen erneut selbstsicher und bohrt nach: „Hängt mein Foto auch da drin? Hast du mein Foto da drin gesehen?“, will sie wissen. Mechthild ist umzingelt. Um sie geschart eine Gruppe von Kindern unterschiedlichen Alters, aufgeweckt, interessiert und sehr mitteilungsbedürftig. Mechthild setzt sich auf die Parkbank, die Kinder nun auf Augenhöhe. Alles spricht querbeet. Das kleine Mädchen aus dem Bildband wartet jegliches Zwischenfunken der anderen Kinder duldsam ab. Eine Frage nach der anderen wird beantwortet, kleine Geschichten, Bemerkungen und Kommentare werden mit eigenen Geschichten und Kommentaren gewürdigt. Die Frau ist lustig. Die Kinder sind zufrieden. Es ist ihnen anzusehen. Einige gehen ihrem Spiel nach, andere bleiben.

Die blonde Frau ist interessant, macht neugierig auf mehr. „Warum hast du so viele Bücher?“ - „Weil ich sie verschenken will. Eines hier bekommt Özlem.“ „Was? Özlem!“. Fragende Blicke richten sich auf meine Person, der Name Özlem ist bekannt. „Bist du türkisch?!“, werde ich gefragt. Die Kinder kennen die Türkei aus ihren Fluchterlebnissen. „Nein“, antworte ich. "Ich bin Kurdin.“ Ihre Augen werden groß, „Ich auch!“ sagt das kleine Mädchen euphorisch und tippt währenddessen mit ihren kleinen feinen rosarot lackierten Fingern auf ihre Brust. „Aus Syrien. Und du? Kannst du Kurdisch“ – „Leider nein.“, antworte ich etwas wehmütig. „Ich bin eine deutsche Staatsbürgerin mit kurdischen Wurzeln, die Türkisch kann.“, ich merke wie sie meine Antwort leicht verwirrt. Damit kann das kleine kurdische Mädchen nichts anfangen, jedenfalls noch nicht. Höflich wendet sie sich trotzdem mit einem schelmischen Augenzwinkern von mir ab.

Ihre Aufregung wird größer, endlich, eines der Bildbänder wird aufgeschlagen. Mechthild blättert Seite um Seite das kleine Mädchen hervor. Kleine Zeigefinger huschen alsbald über ein Portrait, „Da! Da! … da bin ich. Das bin ich. Siehst du? Ich bin da drin.“, sie atmet tief Luft holend auf. Ein breites Lächeln schmückt nun ihr zierliches Gesicht. Auch die anderen Kinder sind plötzlich still. Prüfende Blicke. Haben auch Mechthilds Augen sie bereits erblickt? Das scheint ihnen wichtig zu sein. Ja, sie haben. „Kannst du auch lesen, was da steht?“, wird Mechthild gebeten. „Klar.“, erwidert diese und schiebt eine Frage hinterher: „Geht ihr eigentlich alle zur Schule?“. Ausführliche Antworten der anderen würgt das kleine Mädchen nun doch ab. Ja auch sie gehe zur Schule, könne aber noch nicht lesen und schreiben. Sie versichert uns, dass sich das aber schon bald ändern werde. „Jetzt lies!“, fordert sie Mechthild ungeduldig auf. …

"Neue Welt" ist ein wahrlich hervor ragendes Werk von Edith Held. Klar und bescheiden und doch, oder gerade deswegen kraftvoll in seiner Wirkung. Das Feingefühl der Künstlerin für die Kinder ist deutlich spürbar beim Betrachten jedes einzelnen Portraits, in jeder wiedergegebenen Geschichte. Auch das tut gut. 
Diese Kinder berühren, sie belustigen, sie stimmen die Betrachtenden traurig - ungewollt, unbewusst, unschuldig. Sie agieren, wie es Kinder nun mal tuen - wahrhaftig.

Wir müssen uns alle damit auseinandersetzen, mit dem Thema Flucht und zwar in jeder Hinsicht, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, es betrifft uns alle - auch zukünftig. Der Umgang damit sagt viel über uns selbst, aber auch über uns als Gemeinschaft aus. Wer sind wir, wer wollen wir sein und wo wollen wir hin, gemeinschaftlich?! Wer dazu noch keinen Draht hat zu dieser "neuen Welt" kann ihn evtl. finden in der Ausstellung, im Bildband von Edith Held.


"Kindermund tut Wahrheit kund."

Dieses oder ein ähnliches Sprichwort diente der Fotografin als Inspiration für das Fotoprojekt, das 2014 in Zusammenarbeit mit der „Galerie auf Zeit“, Gunter Haedke realisiert, und durch die Lotto-Stiftung Berlin ermöglicht wurde. Erst als sie selbst in einem Heim für geflüchtete Menschen war, so sagt die Künstlerin, wuchs in ihr das Bedürfnis dieses Fotoprojekt unbedingt mit den Kindern, und nicht wie zunächst angedacht mit den geflüchteten Frauen, verwirklichen zu wollen.

Entsprungen ist der Titel „Neue Welt“ jedoch Gunter Haedkes Kopf. Das hat auch Edith Held gleich gefallen sagt sie, „weil es wahr ist, es eine neue Welt für alle ist, die hergekommen sind.“ Die Kinder, aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen, sind angekommen in einer „NEUEN WELT“.

In 15 Flüchtlingsheimen wurde fotografiert. Über 100 Kinder aus Berliner Wohnheimen für Geflüchtete wurden für das Fotoprojekt porträtiert. In 105 + 1 Geschichten erzählen die Kinder ihre Geschichte in eigenen Worten. Sie handeln von Heimat, Familie, Flucht, einem neuen Zuhause. Die Kinder erzählen von ihren Sorgen, ihren Freuden, ihren Ängsten und ihren Träumen, von Nichtgesagtem oder Unsagbarem.

Fast zwei Jahre lang hat Held daran gearbeitet, 43 Heime angeschrieben, Geschichten aufgezeichnet und mit einer Mittelformatkamera analog fotografiert. Das war nicht einfach, es mussten Genehmigungen eingeholt, Dolmetscher besorgt und besorgte Eltern beruhigt werden. Für einige Kinder machte sie drei Termine, sprach fast vier Stunden mit Einzelnen. Mittendrin wurde das Thema Flüchtlinge zur Krise.

Der Bildband "Neue Welt" ist im Selbstverlag erschienen und direkt über die Webseite des Projekts zu bestellen.