Aufgrund des medizinischen Fortschritts werden heute auch Menschen mit angeborenem Herzfehler sehr viel älter als noch vor einigen Jahrzehnten. Während Patient*innen mit (mittel-)schwerem Herzfehler aus den Jahrgängen 1950-1959 leider nur zu 10 Prozent das Erwachsenalter erreichen konnten, überleben Menschen der Geburtsjahre 1990-1995 bereits zu 70 Prozent das achtzehnte Lebensjahr, darüber freue ich mich sehr! Diese gute Entwicklung bringt auch drängende Herausforderungen für das Gesundheitswesen mit sich. Es entsteht eine neue Gruppe von Patient*innen mit teils korrigierten oder palliativ zu behandelnden Herzfehlern, deren Versorgung noch nicht ausreichend gewährleistet ist.
Kinderkardiologische Fragestellungen überlagern sich im Erwachsenenalter mit internistischen Problemstellungen und tangieren auch andere Fachbereiche. Die meisten der niedergelassenen Kardiolog*innen haben aber keine oder nur wenig Erfahrungen mit angeborenen Herzfehlern, die Kinderkardiolog*innen sind in der Regel nicht ausreichend mit den Erkrankungen des Erwachsenenalters vertraut. Derzeit erfolgt die ambulante Betreuung der EMAH-Patient*innen (Erwachsene mit angeborenem Herzfehler) noch unstrukturiert gemeinsam durch Kinderkardiolog*innen und Kardiolog*innen, was zahlreiche Fragestellungen bzgl. der Zuständigkeit, Abrechnung und Kapazitäten mit sich bringt. Das Schlimmste aber ist die Angst der Patient*innen vor einer unzureichenden gesundheitlichen Versorgung. Dazu habe ich bereits in einem ausführlichen Artikel berichtet. Der Anfang 2017 veröffentlichte „Deutsche Herzbericht 2016“ greift diese Problemstellung wenigstens auf und widmet den EMAHs ein eigenes Kapitel. Wir reden von keiner kleinen Patient*innengruppe: Geschätzt wird, dass sich die voraussichtliche Anzahl der EMAH-Patient*innengruppe in Deutschland auf über 180.000 Menschen beläuft.
Versorgung der Erwachsenen mit angeborenem Herzfehler
Die EMAH-Patient*innen sind bislang bei den Versorgungsverträgen nach § 116b SGB V noch nicht in den Ausführungsbestimmungen des Gemeinsamen Bundesausschusses berücksichtigt. Die Zusammenarbeit in gemeinschaftlichen Praxen oder Versorgungszentren von Kinderkardiolog*innen und Kardiolog*innen wäre im niedergelassenen Bereich besonders gut. Für den außerhalb der GKV liegenden Bereich hat ein Bundesverfassungsgerichtsurteil die strengen Gebietsgrenzen als unzulässig erklärt.
Ein komplexer Herzfehler benötigt auch laut Herzbericht die Betreuung einer speziell qualifizierten EMAH-Kardiolog*in, während ein einfacher Herzfehler mit normalem Verlauf auch von einer Kardiolog*in ohne spezifische EMAH-Qualifikation betreut werden könne.
Die Versorgungsstrukturen sind zu verbessern. Derzeit gilt aber noch: Problem erkannt, Problembewältigung ungelöst. Bereits 2005 bildeten die drei wissenschaftlichen kardiologischen Fachgesellschaften DGK (Deutsche Gesellschaft für Kardiologie), DGPK (Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie) und DGTHG (Deutsche Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie) gemeinsam mit den Berufsverbänden der niedergelassenen (Kinder-)Kardiolog*innen, dem Kompetenznetz Angeborene Herzfehler und den Dachorganisationen der Selbsthilfe, eine Task Force. In diesem Rahmen wurde ein Zertifizierungsverfahren entwickelt, in dem EMAH-Kardiolog*innen auf ihren Wissensstand hin geprüft und die (Kooperations-)Strukturen der regionalen EMAH-Zentren, der Schwerpunktpraxen (Patient*innenversorgung durch weitergebildete/weiterzubildende (EMAH-zertifizierte) der Erwachsenen- oder Kinderkardiolog*innen, der Ambulanzen in den Zentren für spezielle Fragestellungen und Probleme (z.B. Rhythmologie, Schwangerschaft, usw.), Zentren der Maximalversorgung sowie der überregionalen EMAH-Zentren (mit allen zur kompletten Versorgung der betroffenen Patienten erforderlichen Einrichtungen) überprüft werden.
Neustrukturierung und mehr Zertifizierung gewünscht
„Die Kassenärztliche Vereinigungen sollten die Möglichkeiten bieten, im Rahmen von Ausnahmeregelungen den Kinderkardiologen die Abrechnung von Leistungen an Erwachsenen zu ermöglichen, um eine kompetente wohnortnahe Versorgung dieser Patienten aufrecht zu erhalten“, heißt es in dem Bericht weiter. Empfohlen wird eine dreistufige Basisversorgung (Versorgung aller Patient*innen durch Allgemeinmediziner*inn, hausärztliche Internist*innen oder Kinder- und Jugendärzte, Betreuung aller Patientinnen in Kooperation mit EMAH-Schwerpunktpraxen) durch Hausärzt*innen sowie eine spezialisierte Versorgung durch regionale und überregionale EMAH-Zentren. Letztere würde auf der hausärztlichen Versorgung durch Allgemeinmediziner*innen, Internist*innen und Kinder- und Jugendärzt*innen aufbauen, die in Abstimmung mit den (über-)regionalen EMAH-Zentren die Basisversorgung sicherstellen. Die Kliniken, die Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern behandeln, müssen für eine Zertifizierung als EMAH-Zentrum strukturell vollständig ausgerüstet sein, fordert der Herzbericht. Dazu gehöre eine festgefügte Kooperation mit der Herzchirurgie. Auch die medizinischen Nachbardisziplinen Radiologie, Neurologie, Orthopädie und Frauenheilkunde müssen vorhanden sein.
Von der DGK, der DGPK und der DGTHG wurden insgesamt bislang 16 Zentren als „Überregionales EMAH-Zentrum“, eine Klinik als „EMAH-Schwerpunktklinik“ und sechs Praxen als „EMAH-Schwerpunktpraxis“ zertifiziert. Der Zertifizierungsprozess für die regionalen Schwerpunktpraxen und Kliniken befände sich hingegen erst am Anfang seiner Entwicklung, heißt es im Herzbericht. Am 30. September 2015 gab es in Deutschland insgesamt 284 zertifizierte EMAH-Ärzt*innen, von denen 202 aus der Facharztgruppe der Kinderkardiolog*innen und 82 aus der der Erwachsenen-Kardiolog*innen stammten. Eine vollständige Liste der Pädiater*innen und Internist*innen mit EMAH-Zusatzqualifikation ist auf der Internet-Seite der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie zu finden.