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Kommen Migrant*innen bei der Reform der Pflege zu kurz?

 Der journalistische Beitrag „Migration und Pflegebedürftigkeit - durchs Netz gefallen“ widmet sich einer bedeutsamen Fragestellung: Kommen Migrant*innen bei der Reform der Pflege zu kurz? Vorgestellt werden unter anderem die Brückenbauer*innen, ein Modellprojekt in vier Berliner Pflegestützpunkten, das von den Pflegekassen finanziert wird. Das Projekt ist in Deutschland bislang einmalig. Es soll Menschen mit Migrationsbiographie helfen, die Pflege zu bekommen, die sie brauchen - genauso wie Menschen ohne Migrationshintergrund. Dafür beraten die BrückenbauerInnen nicht nur in der Muttersprache der Pflegebedürftigen. Sie begleiten die Menschen bei wichtigen Terminen. Denn häufig wissen vor allem ältere Migrant*innen gar nicht, was ihr gutes Recht ist. Und das, obwohl sie jahrelang in die Pflegekasse eingezahlt haben. Doch wer nicht weiß, dass ihm oder ihr Unterstützung aus der Pflegekasse zusteht, wird nicht danach fragen. Das Projekt BrückenbauerInnen soll deshalb gezielt Menschen mit Migrationshintergrund ansprechen, damit die Pflegeversicherung ihren Versorgungsauftrag erfüllen kann.

Die Gruppe der Migrant*innen ist vielfältig

2,8 Millionen Menschen in Deutschland sind auf Pflege angewiesen. Laut einer 2011 vom Bundesgesundheitsministerium veröffentlichten Studie haben acht Prozent davon einen Migrationshintergrund. Im Jahr 2013 waren das laut Schätzungen gut 250.000 Menschen. Und bis 2030 wird die Zahl wohl auf rund eine halbe Million anwachsen.

Etwas mehr als ein Drittel der pflegebedürftigen Menschen mit Migrationsbiographie stellen die Spätaussiedler*innen aus der ehemaligen Sowjetunion dar. Die zweite große Gruppe sind die ehemaligen so genannten Gastarbeiter*innen. Die mittlerweile älteren Migrant*innen kamen aus den ehemaligen Anwerbeländern, also aus den südeuropäischen Ländern, Italien, Spanien, Portugal und Griechenland, aber auch aus der Türkei, aus Marokko, Tunesien und aus dem ehemaligen Jugoslawien. Hier wurden Ende der 1950er Jahre bis Anfang der 70er Jahre Arbeitskräfte angeworben für eher geringqualifizierte Tätigkeiten, die oft auch mit besonderen gesundheitlichen Belastungen einhergingen. 

Migrant*innen sind deutlich früher pflegebedürftig

Zwar kamen in den 70er- und 80er- Jahren häufig gesunde Menschen zum Arbeiten nach Deutschland. Doch nach jahrzehntelanger Arbeit in Fabriken und unter Tage werden Migrant*innen heute deutlich früher pflegebedürftig als die einheimische Bevölkerung in Deutschland. Bei Menschen mit Migrationsbiografie gibt es zudem Hinweise auf eine ganze Reihe weiterer gesundheitlicher Risikofaktoren im Alter. Sie verfügen im Vergleich zur einheimischen älteren Bevölkerung über ein erheblich niedrigeres Einkommen, sie sind also wesentlich häufiger von Altersarmut betroffen. Außerdem haben sie oft schlechtere Wohnverhältnisse. Und all das wirkt sich gerade im Alter unmittelbar negativ aus. Nicht altersgerecht ausgestattete Wohnungen erhöhen zum Beispiel die Sturzhäufigkeit.

Doch obwohl der Pflegebedarf bei Migrant*innen oft höher ist als bei Einheimischen, haben sie es schwerer, sich im deutschen Pflegesystem zurechtzufinden. Das zentrale Problem: Die Sprache. Es fehlt häufig eine differenzierte Möglichkeit, sich auszudrücken. Und das ist natürlich für viele mittlerweile eine Zugangsbarriere zu den Hilfen und Unterstützungsleistungen des Altenhilfesystems.

Frage der Vielfalt ist auch in der Pflegeberatung aufzugreifen

Laut der von Expert*innen und Politik 2005 erarbeiteten Pflege-Charta hat jede Person in Deutschland einen Anspruch auf Pflegeberatung. Einzelne Träger und auch Pflegestützpunkte bieten auch eine Pflege-Beratung in der Muttersprache an, indem sie zum Beispiel türkisch-, arabisch- oder russischstämmige Berater*innen einstellen. Ich erwarte, dass die mit dem dritten Pflegestärkungsgesetz geplanten Modellkommunen die Herausforderung Vielfalt annehmen und gestalten.

In Ballungsgebieten, wo viele Migrant*innen leben, gibt es bereits gute Ansätze, vor allem für russisch- und türkischsprachige Pflegebedürftige. Aber für die vielen anderen Migrant*innen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern finden sich nach wie vor nur sehr wenige Angebote tatsächlich kultursensibler Versorgungsformen.

Wolfgang Barth vom Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt identifiziert hier eine gesellschaftliche Frage. Wie weit das Pflegesystem auf die Sprachbarrieren, das Unwissen der Zielgruppe und auf Skepsis der Einwanderer gegenüber deutschen Behörden Rücksicht nehmen muss. "Wir haben noch nicht die Selbstverständlichkeit eines Einwanderungslandes, das sagt: Meine Leistungen stehen jedem offen.  Sondern da gibt’s eher so ein: Ja, wenn du weißt davon, von der Leistung, dann kannst du die haben, aber ich muss da keine Propaganda für machen. Das ist so die Haltung, die wir in allen Systemen so haben."