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Die Türkei nach dem Referendum

Das Referendum über die die neue türkische Verfassung schlägt Wellen weit über die Türkei hinaus. Als Wahlbeobachterin für die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) konnte ich mir über die Abstimmung vor Ort ein Bild machen. Über meine Erfahrungen wollte ich direkt informieren und daher zu einer Veranstaltung am 20. April 2017 in den Bundestag eingeladen. Über einhundert interessierte Gäste waren gekommen. Zusammen mit Kenan Kolat, Vorsitzender der CHP Berlin, Orkan Özdemir, Vorsitzender der AG Migration & Vielfalt der SPD Tempelhof-Schöneberg sowie Dr. Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, diskutierte ich über die Auswirkungen der Abstimmung für die türkische und für die deutsche Gesellschaft.

Knapper Ausgang des Referendums

Mittlerweile hat die türkische Wahlkommission das amtliche Ergebnis verkündet. Das Referendum über die Verfassungsänderung ist mit 51,41 Prozent Ja (Evet)-Stimmen angenommen. Mit Nein haben 48,59 Prozent votiert. Der überraschend knappe Ausgang ist ein großer Erfolg angesichts des einseitigen Wahlkampfs, erklärte Günter Seufert.

Der Wechsel von einem parlamentarischen zu einem Präsidialsystem bedeutet einen tiefgreifenden Wandel des politischen Systems. Präsident Recep Tayyip Erdogan erhält mehr autokratische Macht, die Gewaltenteilung ist praktisch aufgehoben. Ursprünglich entsprang die Verfassungsdebatte aus der Zeit der Liberalisierung und Demokratisierung und sollte das demokratische System stärken. Erst in letzter Zeit kippte der Diskurs in Richtung Machterhalt von AKP und Erdogan durch das angestrebte Präsidialsystem.

Als Wahlbeobachterin in der Türkei

Wahlbeobachtung ist ein gängiges Instrument des Europarats, um zu überprüfen, ob sich seine 47 Mitgliedstaaten an Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Regeln halten. Als PACE-Mitglied habe ich zusammen mit weiteren 22 Parlamentarier*innen aus 15 Nationen die Abstimmung am 16. April 2017 in Ankara, Istanbul, Izmir, Antalya und in Diyarbakır, Südostanatolien, beobachtet. Zusammen mit meiner aus Estland stammenden Kollegin Marianne Mikko habe ich selber 14 Wahllokale in Schulen und in Gefängnissen in und um Ankara besucht. Während meine Kollegen in Diyarbakır durch die Polizei bis zum Mittag am Betreten eines Wahllokals gehindert wurden, konnten wir bei unseren unangemeldeten Besuchen unserer Aufgabe der Wahlbeobachtung nachgehen. Vom technischen Wahlprozedere her habe ich nur wenige Unregelmäßigkeiten festgestellt. Ein offenkundiger Verstoß war ein nur 30 Meter vom Wahllokal hängendes großes „Evet“-Plakat an einer Schule. Auch die von uns in zwei Wahllokalen beobachtete Stimmenauszählung verlief regelkonform.

Keine freien und fairen Wahlen

Die Abstimmung über das Referendum fand unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes statt. Es gab eine massive Einschränkung des Nein (Hayir)-Lagers. Die Möglichkeit, sich zuvor frei über die vorgesehenen Verfassungsänderungen zu informieren, war stark eingeschränkt. In den staatlichen TV-Medien existierte ein dramatisches Ungleichgewicht. So erhielten die Evet-Befürworter*innen in einem Zeitraum 28.000 Sendeminuten, alle Oppositionsparteien zusammen nur 2.700. Seit einem Jahr haben kurdische Politiker*innen keine Möglichkeit mehr im Fernsehen aufzutreten, fügte Seufert hinzu. Ich selbst habe in Ankara nur ein einziges „Hayir“-Plakat gesehen, ansonsten sehr viele „Evet“-Plakate. Die Opposition war somit gezwungen vor allem über soziale Medien und freie Webseiten zu informieren.

Es gab massive Vermischungen zwischen öffentlichen Ämtern und Parteizugehörigkeit und damit den einseitigen Zugriff auf öffentliche Gelder zur Unterstützung von „Evet“. Hayir-Anhänger*innen wurden als Landesverräter*innen diskreditiert, etliche im Vorfeld auch verhaftet. Es gab zudem eine religiöse Aufladung der Abstimmung, so predigte Erdogan, wer mit Nein stimmt gefährde sein Seelenheil.

Freie Wahlen und Chancengleichheit sehen anders aus. Dieses Ergebnis haben wir auch in einer gemeinsamen Erklärung der OSZE/ODIHR und dem Europarat sehr deutlich gemacht. Im Bericht wurden die fehlende Chancengleichheit, eine einseitige mediale Berichterstattung und die Beeinträchtigung von grundlegenden Freiheitsrechten durch den Ausnahmezustand bemängelt.

Erhebliche Manipulationsvorwürfe

„Die Wahl ist eigentlich ungültig. Er könne viele Beispiele nennen.“ betonte Kolat. Eine Abstimmung über eine Verfassungsänderung in einem Ausnahmezustand ist nicht hinnehmbar. Nach den Berechnungen der CHP hätte das Nein-Lager mit 54 zu 46 Prozent gewonnen. Es seien 2,5 Millionen Stimmen mit ja gewertet worden, die nicht den offiziellen Stempel trugen. In ca. 60.000 Wahlbezirken hätte es Widersprüche gegeben.

Die Zulassung von möglicherweise bis zu 1,5 Millionen wahlentscheidenden Stimmzetteln ohne den notwendigen Stempel durch die oberste Wahlbehörde verstößt gegen das türkische Wahlrecht und wurde bereits am Abstimmungstag moniert. Ich halte es für richtig, dass die sozialdemokratische CHP juristisch gegen das Ergebnis vorgeht und bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen will. Es ist auch richtig, dass der Europarat angesichts der verheerenden politischen und menschenrechtlichen Lage in der Türkei am 25. April 2017 beschlossen hat, die Türkei im sogenannten Monitoring-Verfahren erneut unter verschärfte Aufsicht hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie zu stellen.

Aber zugleich ist die Hayir-Opposition sehr uneinheitlich und zerstritten, konstatierte Seufert. Er bezifferte das Nein-Lager auf 25 Prozent CHP-Anhänger*innen, 10-12 Prozent Kurd*innen und auch 4-5 Prozent MHP-Anhänger*innen, aber auch es gab auch Unterstützung aus dem AKP-Lager. Insbesondere die drei großen Städte Istanbul, Ankara und Izmir haben mit Nein gestimmt. Es war das erste Mal, dass Erdogan in Istanbul keine Mehrheit für sein Vorhaben erzielen konnte.

Polarisierte Debatte in Deutschland

In keinem anderen Land der Welt erfährt die türkische Politik einen so großen Resonanzraum wie in Deutschland, analysierte Seufert. Das zeigen die oft sehr aufgeregten Reaktionen exemplarisch. Er plädierte für mehr inne halten.

Während der Abstimmungszeit hier in Deutschland waren Kenan Kolat und viele CHP-Mitglieder aktiv und informierten mit 60.000 Flugblättern über das Referendum. Kenan Kolat schilderte seine Beobachtungen wie folgt: „Die Leute haben Erdogan gewählt, sie kannten die Änderungen der Verfassung in der Regel nicht.“ In Berlin fiel das Ergebnis unentschieden aus, während in den anderen deutschen Städten das Ja-Lager deutlich führte. Seiner Einschätzung nach haben eher die Älteren und die „nur“ türkischen Staatsbürger*innen für ja gestimmt und die Jüngeren und Doppelstaatler*innen eher für nein.

Die SPD sollte tapfer bleiben, betonte Kolat. „Wir sollten nicht die AfD-Ressentiments gegenüber den türkischstämmigen Bürger*innen übernehmen.“ Orkan Özdemir wies auf die Re-Ethnisierungstendenzen in der deutschen Gesellschaft hin. Die Identifikation mit einer Ethnie gewinnt an Relevanz, wichtiger, wenn Identitätskrisen entstehen, weil sich die Menschen als nicht der Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen. Er sieht das Abstimmungsverhalten auch als eine Trotz-Reaktion an. So haben Frauen, die Kopftuch tragen, siebenfach schlechtere Einstellungschancen und Männer mit türkisch/arabischer Migrationsbiografie sechsfach schlechtere Einstellungschancen.

Kolat zählte sechs Bruchstellen für die Entfremdung der türkischstämmigen Bevölkerung mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft:

  • 1980: Einführung des Visa-Zwang
  • 1992/93: Brandanschläge von Mölln und Solingen
  • 2000: Abschaffung der Möglichkeit der Mehrstaatlichkeit
  • 11.9.2001 Generalverdacht gegen alle Muslime
  • 2011 Aufdeckung der NSU-Morde
  • 2016 Armenienresolution

Auch Özdemir warnte dafür den Diskurs anderen zu überlassen. Bei den US-Wahlen hätten etwa 45 US-Amerikaner*innen Prozent Trump gewählt, über 50 Prozent der hier lebenden Ungarn hätten für Orban gestimmt, ohne das anschließend eine Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft angezettelt wurde. Die 63 Prozent Ja-Sager*innen sind Produkte unserer Gesellschaft. Doch Özdemir betonte zugleich die Notwendigkeit, dass Nationalismus überall bekämpft werden müsse - auch bei türkischstämmigen Bürger*innen.

Rote Linie Todesstrafe

Ein Referendum über die Einführung der Todesstrafe sei von der AKP der rechtsnationalistischen MHP versprochen worden als ein Zugeständnis für die Unterstützung der MHP für Erdogan, erklärte Kolat.

Ich machte deutlich, dass die Einführung der Todesstrafe eine rote Linie darstellt, sowohl was die Verhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union anbetrifft, aber auch für die Mitgliedschaft der Türkei im Europarat.

Erdogan ist nicht die Türkei - Fortführung der deutsch-türkischen Beziehungen

Angesichts des äußerst umstrittenen und knappen Ergebnisses müssen wir die türkische Zivilgesellschaft stärken und den Dialog mit Türkeistämmigen fortsetzen - auch innerhalb Deutschlands.

Das europäisch- bzw. das deutsch-türkische Verhältnis ist stark belastet und hierzu müssen klare Worte fallen. Aber das türkische Volk ist gespalten - Staatspräsident Erdogan ist nicht die Türkei. Wir dürfen die bunte Gruppe der mutigen Hayir- Entscheider*innen nicht alleine lassen. Wir müssen den Dialog aufrechterhalten, auch wenn es schwerfällt. Kenan Kolat zeigte auch einen Weg: Wir sollten versuchen die Zivilgesellschaft zu stärken, zum Beispiel durch eine Belebung der vielen Städtepartnerschaften wie Berlin - Istanbul. Derzeit gibt es 89 Partnerschaften zwischen deutschen und türkischen Städten, erklärte Kolat. Auch Tempelhof-Schöneberg könnte hier einen aktiven Beitrag leisten durch die Stärkung der Partnerschaft mit Mezitli-Mersin.