Einstimmig beschloss der Ausschuss für Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) meine Resolution und den dazugehörigen Bericht „Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderung: eine demokratische Herausforderung“. Darüber freue ich mich sehr. Auf Youtube habe ich den Reporter*innen der Media Box des Europarates kurze Statements zum Bericht gegeben: deutschsprachig und englischsprachig. In der ersten Sitzungswoche 2017 der Parlamentarischen Versammlung hatte ich dem Ausschuss am 24. Januar 2017 meinen Entwurf für eine Resolution und den dazugehörigen Bericht vorgelegt. Dem Beschluss voraus ging ein Jahr der Erarbeitung von Positionen und Empfehlungen, in Kooperation mit Vertreter*innen verschiedener Mitgliedsstaaten des Europarates, mit den Mitgliedern im Ausschuss, mit Expert*innen von Verbänden von Menschen mit Behinderungen, Selbstvertretungsorganisationen und Menschenrechtsorganisationen. Ich bedanke mich herzlich beim Ausschusssekretariat für die tatkräftige Unterstützung bei der Erstellung des Berichtes.
Resolution und Bericht analysieren die Situation der politischen Partizipationsrechte von Menschen mit Behinderung und zeigen Best-Practises-Beispiele auf. In der Resolution werden Handlungsempfehlungen an die Mitgliedstaaten vorgeschlagen, wie die politischen Partizipationsrechte von Menschen mit Behinderung gestärkt werden können.
Das Ziel ist, dass jede Bürgerin, jeder Bürger auch wählen gehen und gewählt werden kann. Das ist bis jetzt aber erst in 14 EU-Staaten möglich. Ich möchte überall ein inklusives Wahlrecht verankert sehen. Resolution und Bericht sollen einen Beitrag dazu leisten, in den 47 Mitgliedsstaaten des Europarates, also auch bei uns in Deutschland, die politische Beteiligung von Menschen mit Behinderung zu verbessern.
Die Verabschiedung im Namen der PACE erfolgt am 10. März im Ständigen Ausschuss (Standing Committee) des Europarates in Madrid, Spanien.
Der Europarat hat seinen Aktionsplan „Menschenrechte: Eine Realität für alle“ am 30. November 2016 angenommen. Ich werde die Resolution und den Bericht auf der internationalen Konferenz „Strategy on the Rights of Persons with Disabilities 2017-2023“ des Europarats in Nikosia, Zypern, Ende März vorstellen. Gleichheit, Würde und Chancengleichheit sollen auf der Grundlage der Menschenrechte für alle Menschen gelten.
Die englischsprachige Fassung der Resolution und des Berichts „The political rights of persons with disabilities: a democratic issue“ können Sie hier als PDF-Dokument herunterladen, ebenso die französischsprachige Fassung. Die Übersetzung ins Deutsche ist in Arbeit und wird demnächst auf meiner Webseite veröffentlicht.
Wahlrecht ist ein grundlegendes Menschenrecht
Das Recht zu wählen und gewählt zu werden sind fundamentale Menschenrechte, um die sich der Europarat zu Recht kümmert. Menschen mit Behinderungen sehen sich bei der Ausübung ihrer politischen Partizipationsrechten allerdings einer Reihe von Hemmnissen und Barrieren gegenüber.
Etwa 23 Prozent der Menschen der Europäischen Union haben eine Form von Behinderung, in unseren Parlamenten sind Menschen mit einer Behinderung aber eher eine Ausnahme. Das bestätigt auch das Ergebnis meiner Befragung aller Mitgliedsstaaten des Europarats.
In vielen Staaten sind Menschen vom Wahlrecht ausgeschlossen, wenn sie unter rechtlicher Betreuung stehen. Das betrifft allein in Deutschland über 81.000 Menschen. Das muss sich unbedingt ändern.
Barrieren, die Menschen mit Behinderungen vom Wählen und Gewählt werden abhalten
Die Barrieren für Menschen mit Behinderungen sind vielfältig, so unter anderem:
- viele Wahllokale und Informationen über die Wahlen sind nicht barrierefrei
- für blinde Menschen gibt es oft keine Wahlschablonen oder Informationen in Braille-Schrift
- Wahlkampfmaterialien und die Wahlprogramme sind in der Regel nicht in leichter Sprache verfasst
- Videos mit Untertiteln und Wahlkampfauftritte, gedolmetscht in Gebärdensprache, sind zu selten
- die mediale Wahlberichterstattung ist ebenfalls in der Regel nicht barrierefrei
- die Zugänglichkeit von Parlamenten, Rathäusern und Regierungsgebäuden ist oft nicht umfassend barrierefrei. Das gilt gleichermaßen auch für die Berichterstattung und öffentliche Informationsmaterialien.
- politische Parteien tun sich häufig schwer, Menschen mit Behinderung sowohl in der aktiven Parteiarbeit, als auch bei der Aufstellung von Wahllisten zu beteiligen.
Schlussfolgerungen des Berichtes
Inklusives Wahlrecht
Das Wahlrecht muss so ausgestaltet werden, dass es den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) genügt. Menschen darf ihr Recht zu wählen und gewählt werden nicht genommen werden. Und sie dürfen bei der Ausübung ihres Rechts nicht eingeschränkt werden. Dazu gehört die Trennung von Rechtsfähigkeit und Wahlrecht. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für eine inklusive Gesellschaft.
Parteien spielen eine entscheidende Rolle
Die politischen Parteien müssen sich stärker für Menschen mit Behinderung öffnen. Parteien und Fraktionen in den Parlamenten sollten Sprecher*innen für die Vertretung von Interessen für Menschen mit Behinderungen benennen - dies ist in den Fraktionen des Deutschen Bundestages der Fall. Positiv für die politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen ist es, wenn sich innerhalb der Parteien Menschen mit (und ohne) Behinderungen zusammenschließen, um ihre Interessen besser zu vertreten. Dies ist in der SPD durch die Arbeitsgemeinschaft „Selbst Aktiv“ auf Bundesebene und Länderebene - so auch in Berlin - der Fall. Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen in der politischen Arbeit und auch bei der Aufstellung von Kandidierenden sollte aktiv gefördert werden. Parteien sollten sich sehr viel stärker bewusst machen, dass Menschen mit Behinderungen einen bedeutenden Teil der Wähler*innenschaft darstellen.
„Nichts ohne uns über uns“
„Nichts ohne uns über uns“ lautet das Motto der UN-BRK. Nach diesem Motto muss auch das Zusammenwirken von Parlamenten und Parteien mit Verbänden von Menschen mit Behinderungen und Selbstvertretungsorganisationen verbessert und gestärkt werden. So sollten Gesetzgebungsverfahren, die Menschen mit Behinderungen betreffen, in enger Abstimmung mit Verbänden von Menschen mit Behinderungen, insbesondere Selbstvertretungsorganisationen erfolgen.
Umfassende Barrierefreiheit
Wir brauchen einen umfassenden Ansatz hinsichtlich Zugänglichkeit und Barrierefreiheit. Dies gilt sowohl für die bauliche Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden, Parlamenten und insbesondere auch von Wahllokalen für Rollstuhlfahrende, für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder gehörlose Menschen. Aber genauso gilt das auch für den Zugang zu Informationen über die Wahlabläufe, den Partei- und Wahlprogrammen und den Wahlvorgang selbst. Hier sollten verstärkt Materialien in leichter Sprache, Videos mit Untertiteln oder übersetzt in Gebärdensprache, und Wahlschablonen genutzt werden. Nicht zuletzt die Parlamente selbst müssen barrierefrei werden, damit Abgeordnete mit Behinderungen gleichberechtigt arbeiten können. Auch in Zeiten der Austeritätspolitik in vielen Mitgliedsstaaten des Europarats dürfen diese Aspekte nicht vernachlässigt werden.
Ausgewählte Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten:
- Die Ratifizierung und Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention soll in allen Mitgliedsstaaten zügig erfolgen.
- Das Wahlrecht ist allen Menschen zuzustehen und daher vom Betreuungsrecht zu trennen.
- Der Zugang zu Wahllokalen muss barrierefreier werden. Ich schlage vor, dass in jedem Wahlkreis wenigstens ein Wahllokal vollumfänglich barrierefrei sein sollte.
- Parlamente und Rathäuser sollten barrierefrei gestaltet werden.
- Wahlschablonen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen sollten bereitgestellt werden.
- Spezielles Informationsmaterial und -kampagnen zur Unterstützung der Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderungen sollten in Kooperation mit Verbänden von Menschen mit Behinderung und insbesondere deren Selbstvertretungsorganisationen erstellt werden.
- Die Kandidatur von Menschen mit Behinderungen bei Wahlen sollte unterstützt werden.
- Gebärdensprache sollte als offizielle Sprache anerkannt werden.
- Parlamente sollten ihre Debatten und Informationsmaterialien barrierefrei gestalten.
- Politische Parteien sollten die Beteiligung von Menschen mit Behinderung unterstützen durch barrierefreie Informationsmaterialien und den Zugang von Veranstaltungen ermöglichen.
- Die Rolle von Verbänden von Menschen mit Behinderung und insbesondere deren Selbstvertretungsorganisationen sollte gestärkt werden.
- Die Parlamentarische Versammlung des Europarats sollte mit guten Beispiel vorangehen und die Resolution in leichter Sprache auf ihrer Webseite veröffentlichen und die Möglichkeit prüfen, die Texte in Gebärdensprache zu übersetzen und veröffentlichen.
Einzelne Schritte zur Entstehung des Berichts
In den Jahren 2014/2015 war ich die erste Vorsitzende des neugegründeten Unterausschuss Behinderung und Inklusion. Am 22. Mai 2015 fand ein Gesprächsaustausch zum Thema politische Partizipation von Menschen mit Behinderung mit Martha Stickings, Research Support Officer, Equality and Citizens’ Rights Department bei der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, statt. Sie berichtete von einer Studie, wonach für Menschen mit Behinderungen allein aus rechtlichen Gründen heraus in 21 Staaten Einschränkungen beim Wahlrecht existieren, ganz zu schweigen davon, dass der Zugang zu Wahllokalen oftmals nicht barrierefrei ist.
Im Nachgang zu dieser Debatte initiierte ich die Motion (Antrag) zu: “Die politischen Rechte von Menschen mit Behinderung - eine demokratische Herausforderung“, „The political rights of persons with disabilities: a democratic issue“. Am 27. Januar 2016 wurde mir von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats die Berichterstattung für das Thema „The political rights of persons with disabilities: a democratic issue“ anvertraut. Hier geht es um die Stärkung der demokratischen BürgerInnen- und Beteiligungsrechte von Menschen mit Behinderung.
Um einen Überblick zur aktuellen Situation zu erhalten, hatte ich einen Fragebogen an die 47 Mitgliedsstaaten des Europarates sowie den nichteuropäischen Beobachterstaaten gesandt. Gefragt habe ich nach der rechtlichen Situation des Wahlrechts für Menschen mit Behinderung, der Zahl und Funktion der MinisterInnen bzw. der Parlamentarier*innen mit Behinderung, nach konkreten Maßnahmen zur Ausgestaltung von Partizipation von Menschen mit Behinderungen im öffentlichen und politischen Leben, nach speziellen Kampagnen zur Erhöhung des Zugangs zu Informationen während des Wahlkampfes, nach Formen der Barrierefreiheit beim Wahlakt (u.a. Schablonen für Blinde) in den Wahllokalen bzw. dem Zugang zu diesen selbst.
Der Rückfluss war erfreulicherweise sehr hoch: 41 Staaten haben geantwortet und Auskunft über die aktuelle Situation gegeben. Es gab sogar den höchsten Rücklauf an Antworten an die Mitgliedsstaaten überhaupt. Das beweist, dass eine hohe Sensibilisierung für das Thema Inklusion in den meisten Mitglieds- und Beobachterstaaten des Europarates besteht. Nicht geantwortet haben lediglich Armenien, Aserbaidschan, Bulgarien, Island, Lichtenstein, Moldawien, Monaco und San Marino.
Im Unterausschuss Behinderung und Inklusion des Ausschusses Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung fand am 11. Oktober 2016 eine Öffentliche Anhörung zur Themenstellung Rechtsfähigkeit und das Recht zu wählen statt. Als Experten eingeladen waren Milan Šveřepa Director of the NGO Inclusion Europe, und Alfredo Ferrante, Chairperson of the Council of Europe Ad Hoc Committee on the Rights of Persons with Disabilities. Ihre Statements zur Frage der politischen Partizipation von Menschen mit Behinderungen können auf Youtube angeschaut werden: Statement von Mila Šveřepa und Statement von Alfredo Ferrante.
Beide Experten verwiesen auf die unterschiedlichen Gegebenheiten zum Betreuungsrecht in den Staates des Europarates. Ferrante stellte den Evaluationsbericht des Ministerrates zum abgelaufenen „Evaluation report on the implementation of the Council of Europe Action Plan to promote the rights and full participation of people with disabilities in society: Improving the quality of life of people with disabilities in Europe 2006-2015“ vor. Sowohl Šveřepa als auch Ferrante sprachen sich für eine Stärkung und den Ausbau der politischen Partizipation von Menschen mit Behinderungen aus. Dazu gehört auch die Trennung von Rechtsfähigkeit und Wahlrecht. Ich fand die Ausführungen sehr überzeugend. Diese Haltung entspricht der UN-Behindertenrechtskonvention und ist auch eine wesentliche Kernforderung in meiner Resolution und in meinem Bericht.
Um weitere Informationen für den Bericht zu sammeln, habe ich einen Fact-Finding Visit nach Wien, Österreich, unternommen, um dort mit Expert*innen der Europäischen Grundrechteagentur sowie mit Vertreter*innen von Politik, Verbänden und Selbstvertretungsorganisationen zu sprechen. Wichtige Impulse für meine Arbeit habe ich auch von der Konferenz “Our right to participate – promoting the participation of persons with disabilities in political and public life” in Helsinki erhalten, die am 31.10.2016 von der OSZE /ODIHR organisiert wurde.
In der Dezembersitzung des Ausschusses für Gleichstellung und Nicht-Diskriminierung in Paris am 6. Dezember 2016 konnte ich mit den Ausschussmitgliedern bereits über den Entwurf des Berichts diskutieren. Hier habe ich weitere wertvolle Anregungen erhalten, unter anderem den Hinweis, dass die Datenlage zur öffentlichen und politischen Partizipation in vielen Staaten noch sehr verbesserungswürdig ist.
All diese Impulse und Beiträge sind in den Bericht und in die Resolution eingeflossen.
Hintergrund UN-Behindertenrechtskonvention
Die politische und gesellschaftliche Teilhabe und die Partizipation von Menschen mit Behinderungen gehören zu den Kernzielen der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Nach Artikel 29 UN-BRK obliegt es den Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben zu garantieren. Hierzu gehört ausdrücklich auch die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts. Zudem ist es Aufgabe des jeweiligen Vertragsstaates, aktiv ein Umfeld zu fördern, das Menschen mit Behinderungen die Mitwirkung an der Gestaltung aller öffentlichen Angelegenheiten erlaubt.
Artikel 31 UN-BRK verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, geeignete Daten und Statistiken zu erheben, die es ihnen ermöglichen, Handlungserfordernisse zu identifizieren und politische Konzepte zur Durchführung des Übereinkommens zu erarbeiten und umzusetzen.