Hauptmenü

Tag des Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Der Deutsche Bundestag beging den internationalen Tag der Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar mit einer Gedenkstunde. Der Bundestagspräsident Norbert Lammert ermutigte die Bürgerinnen und Bürger, sich gegen Rechtsextremismus und Neonazi-Umtriebe zu engagieren. Marcel Reich-Ranicki erinnerte als Überlebender des Warschauer Gettos in einer ergreifenden Rede an das „Todesurteil“ über die Juden im Warschauer Getto vom 22. Juli 1942. Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen Hubert Hüppe forderte in einer am Nachmittag stattfindenden Gedenkveranstaltung mehr Aufklärung und Information über die Hintergründe der nationalsozialistischen Euthanasiemorde an behinderten und psychisch erkrankten Menschen, die von der Zentrale der sogenannten „Aktion T4“ in der Berliner Tiergartenstraße 4 ausging. VertreterInnen aller Fraktionen legten Kränze am Gedenkort nieder.

Ermutigung zum Engagement gegen Rechts

Der Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert gedachte in seiner Rede aller Opfer des Nationalsozialismus, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgegrenzt, gedemütigt, beraubt, vertrieben, verfolgt, gefoltert und ermordet wurden. Er erinnerte an die sogenannte Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, bei der hochrangige Vertreter von SS- und Polizeidienststellen und viele Staatssekretäre „zu einer Besprechung mit anschließendem Frühstück“ eingeladen waren - und hier die Umsetzung des längst geplanten Massenmordes an sechs Millionen Menschen generalstabsmäßig planten und organisierten. Die vielen Orte nationalsozialistischer Gewaltherrschaft sollen uns mahnen, uns dafür einzusetzen, „dass in Deutschland alle Menschen frei und gleich und ohne Angst leben können. Das ist unser Ziel.“ Dieses Ziel hätten wir noch nicht erreicht, wie die im Herbst vergangenen Jahres aufgedeckte Neonazi-Mordserie zeige.

Ich danke dem Bundestagspräsidenten für seine klaren Worte: Gewalt und Hass seien nicht zu akzeptieren. Er würdigte die vielen Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen Rechtsextremismus und Neonazi-Umtriebe engagieren, sich mit Zivilcourage den Rechtsextremen immer wieder entgegenstellen und so öffentlich deutlich machen, keine Diffamierungen und keine Diskriminierungen, keinen Hass und schon gar keine Gewalt dulden zu wollen. Er verwies auch auf den 2008 vom Deutschen Bundestag in Auftrag gegebenen, jüngst veröffentlichten Expertenbericht zum Antisemitismus in Deutschland. Das erschütternde Ergebnis besagt, dass rund 20 Prozent der BundesbürgerInnen latent antisemitisch eingestellt sind. „Das ist in Deutschland genau 20 Prozent zu viel“, stellte der Bundestagspräsident richtigerweise fest.

Ein Überlebender als Zeitzeuge: Marcel Reich-Ranicki
Gastredner in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus war der nunmehr 91jährige Marcel Reich-Ranicki, ein Zeitzeuge der unmenschlichen Gräuel im Warschauer Getto. Marcel Reich-Ranicki, vielen als gefürchteter Literaturkritiker bekannt, hatte als junger Mann den Holocaust der Nazis überlebt. Er berichtete von einem prägenden Ereignis seines Lebens, vom Mittwoch, den 22. Juli 1942, dem Tag, an dem die Anordnung der „Umsiedlung“ der Bewohnerinnen und Bewohner des Warschauer Gettos durch die SS erfolgte. Dem Tag, an dem ein Urteil „über die größte jüdische Stadt Europas gefällt worden war - das Todesurteil“.

Marcel Reich-Ranicki arbeitete als Übersetzer im Hauptgebäude des Getto-Judenrates, einer perfiden Form der Selbstverwaltung, die die Befehle der SS ausführen musste. Als er in das Zimmer des Obmanns Adam Czerniaków gerufen wurde, fürchtete er als Geisel von der SS verhaftet zu werden. Doch der gerade mit seinen Trupps vorgefahrene SS-Sturmbannführer Hermann Höfle, Leiter der allgemein als „Ausrottungskommando“ genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer, suchte einen Protokollanten. So protokollierte er die Anordnung, mit der die SS die sofortige „Umsiedlung“ der Warschauer Juden „nach Osten“ anordnete. So erfuhr er davon, dass „über die größte jüdische Stadt Europas das Urteil gefällt worden war - das Todesurteil“. Er vernahm auch, dass Ehefrauen und Kinder der beim „Judenrat“ beschäftigten Personen von der „Umsiedlung“ ausgenommen sein sollten. Sofort ließ der Zwanzigjährige seine Freundin Teofila herbeirufen. Ein Rabbiner traute die Beiden noch am gleichen Tag. Teofila Reich-Ranicki verstarb nach 69 gemeinsamen Ehejahren im April 2011.

Wohl in Abhängigkeit von der Zahl der zur Verfügung stehenden Viehwaggons wurden ab den Vormittagsstunden des 22. Juli 1942 pro Tag mal 6000, mal 10.000, bis Mitte September in der Regel 7000 Menschen vom „Umschlagplatz" aus Warschau nach Treblinka deportiert. „Was die ‚Umsiedlung‘ der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung - die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.“ Am Ende der Rede von Marcel Reich-Ranicki erfüllte Schweigen den Plenarsaal des Deutschen Bundestages.

Mehr Aufklärung und Information über Hintergründe der Massenmorde an behinderten und psychisch erkrankten Menschen

Die Planung und Organisation der Massenmorde an behinderten und psychisch erkrankten Menschen gingen von der Zentrale der sogenannten „Aktion T4“ in der Tiergartenstraße 4 (heute nahe der Philharmonie) in Berlin aus. Daran erinnerte der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen Hubert Hüppe in einer Gedenkveranstaltung vor rund 200 TeilnehmerInnen von Betroffenen- und Opferorganisationen, zahlreichen Abgeordneten des Deutschen Bundestages und weiteren Gästen. „Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen waren die ersten Opfer des verbrecherischen NS-Regimes. Sie wurden systematisch erfasst, zu Forschungszwecken missbraucht und zwangssterilisiert. In den Gaskammern der Nazis wurde an ihnen ausprobiert, was später millionenfach wiederholt wurde.“

Der Deutsche Bundestag hat im Jahre 2011 beschlossen, den bestehenden Gedenkort mit einem Denkmal in der Tiergartenstraße 4 aufzuwerten. Es soll eine würdige Gedenk- und Informationsstätte geschaffen werden, die vor allem junge Menschen über die Nazi-Gräueltaten aufklärt, damit eine menschenverachtende Ideologie, die Menschen entlang der Kategorien „lebenswert“ und „lebensunwert“ selektiert, in Deutschland nie wieder Raum greift. Der Deutsche Bundestag hat im vergangenen Jahr ebenfalls beschlossen, behinderte und psychisch erkrankte Opfer von Zwangssterilisationen während der NS-Zeit gegenüber anderen Opfergruppen gleichermaßen zu entschädigen.

Holocaust-Gedenktag
Am Holocaust-Gedenktag wird weltweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Am 27. Januar 1945 waren die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz von sowjetischen Truppen befreit worden. Auschwitz steht seither symbolhaft für den Völkermord und die Millionen Menschen, die vom Nazi-Regime verfolgt und umgebracht wurden. Der Deutsche Bundestag erinnert seit 1996 jährlich in einer Gedenkstunde an die Befreiung des Vernichtungslagers.