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„Wir sind nicht behindert, wir werden behindert!“ - Sommerfrühstück zum Thema Inklusion

Mit der Aussage „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert!“ hat Benno Laakmann vom Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenverein Berlin e.V. und Mitglied im Beirat von und für Menschen mit Behinderung Tempelhof-Schöneberg beim „Sommerfrühstück Inklusion“ am 21.August 2012 die Probleme vieler Menschen mit Behinderung auf den Punkt gebracht.

Im Rahmen der schon traditionellen Sommerreihe „Auf ein Wort mit Mechthild Rawert“ lädt die Bundestagsabgeordnete für Tempelhof-Schöneberg Verbände und Initiativen aus ihrem Wahlkreis Tempelhof-Schöneberg zu zielgruppenorientierten thematischen Sommerfrühstücken ein. Diese dienen dazu, von den Bürgerinnen und Bürgern selbst, aus Selbsthilfegruppen, Vereinigen und Initiativen, aus Organisationen der jeweiligen Lebens- und Politikfelder „vor Ort“ im direkten Austausch und in geballter Form Forderungen und Wünsche an die Bundespolitik entgegenzunehmen. Der Einladung zum „Sommerfrühstück Inklusion“ folgten mehr als 30 Engagierte. Ort der Begegnung war das Kulturzentrum Türkisches Haus Berlin, An der Urania, in Schöneberg.

Kooperierender Veranstalter dieses Sommerfrühstücks war die Türkisch-Deutschen Frauenvereinigung zu Berlin e.V. BETAK. Ein besonderes Dankeschön geht dafür an Sema Özcan Sarigul, BETAK Vorsitzende. BETAK hat sich 1992 gegründet und führt seither verschiedene Projekte durch, u.a. die Mütter-Selbsthilfegruppe „Besondere Mütter“.

In lebhafter Runde frühstückten und diskutierten weiterhin VertreterInnen des Sozialverbandes vdek, der Berliner Schwulenberatung, der Pegasus GmbH für soziale und gesundheitliche Innovation, vom Verein Autismus Deutschland e.V., der Berliner Werkstatthilfe, der Rheuma Liga Berlin, der Albatros gGmbH (viele davon MacherInnen der Datenbak Mobidat) und der Werkstatt der Religionen in der Werkstatt der Kulturen.

Die Barrieren im Kopf abbauen
Gleich in der ausführlichen Vorstellungsrunde ging es mit den Forderungen und Wünschen los:
Uli Pollert von der Berliner Schwulenberatung stellte den „Lebensort Vielfalt“ vor, ein europaweit einzigartiges Mehrgenerationenhaus (nicht nur) für schwule Männer. Hier hat auch deutschlandweit die erste Pflegewohngemeinschaft für schwule Männer mit Demenz ihren Platz. Pollert kritisierte, dass es bislang keine Einrichtung mit einem speziellen Betreuungs- und Pflegekonzept für schwule Männer und lesbische Frauen gibt. Er verwies darauf, dass schwule Männer mit Migrationshintergrund sich häufig besonders ausgegrenzt fühlten. „Die Suizidrate ist hoch. Sie wissen nicht, an wen sie sich mit Problemen wenden können.“ betonte er. Pollert forderte auch mehr Unterstützung für psychisch Erkrankte, und eine bessere Eingliederungshilfe, vor allem auch mehr entsprechende Arbeitsmöglichkeiten für sie. Trotz aller Probleme ist - so Pollert - Berlin im Kampf für Barrierefreiheit aber schon „gut aufgestellt“ und es gibt durchaus Anlass zum Optimismus. Dieser kommt aber manchmal zu kurz, „weshalb wir im Meckern wohl Olympiasieger sind“.

Gisela Fuchß, Fahrgastbeirat beim Senat  AG Gesundheit und Soziales DRL betonte, dass das öffentliche Verkehrswesen noch barrierefreier werden muss.

Karlo Bozinovski von der Pegasus GmbH machte klar, dass bei vielen Menschen die  „Barrieren im Kopf“ abgeschaltet werden müssen. Er hatte ein besonders markantes Beispiel parat. Dieses zeigt, wie wenig beim Neubau von Infrastrukturprojekten an die Bedürfnisse von Menschen mit Handicap gedacht wird. Der 2005 eröffnete Berliner Hauptbahnhof sei vom leitenden Architekten ohne Blindenleitsystem entworfen worden. Mit viel Ärger und Geld ist dieses erst nachträglich eingebaut worden.

Es bedarf aber schon in der Planungsphase Barrierefreiheits-Gutachten, so Karlo Bozinovski. Architekten betrachten ihre Bauten zu sehr als „Kunstwerke“. Sowohl Architekten als auch die Menschen in den Ämtern brauchen aber eine entsprechende Ausbildung, um sensibel für die zahlreichen Menschen mit besonderen Bedürfnissen - Eltern mit Kindern, mit Kinderwagen, für SeniorInnen und andere - zu sein.

Bessere Versorgung mit Hilfsmitteln nötig
Handlungsbedarf existiert auch bei der Heil- und Hilfsmittelversorgung. Insbesondere die Versorgung mit Inkontinenzprodukten ist in den vergangenen Jahren von den Krankenkassen durch die Ausschreibungspraxis zu rigide gehandhabt worden, so Christine Gaszczy vom Sozialverband vdek. Ohne eine gute Hilfsmittelversorgung ist Gesundheitspolitik  „für die Katz“, kann keine soziale Teilhabe und Partizipation, kein soziales Leben geführt werden - so ihre klare Botschaft. „Außerdem war es peinlich, dass ausgerechnet am 3. Dezember, dem Tag der Menschen mit Behinderungen, bekannt geworden ist, dass die Bundesregierung Wohnanpassungsprogramme drastisch kürzen wird.“ 

Eine Vertreterin von der Mütter-Selbsthilfegruppe „Besondere Mütter“ verwies nachdrücklich auf den Bedarf an mehr- und muttersprachlichen Informationsmaterialien und Beratungsangeboten. Diese sind für viele Migrantinnen und Migranten die Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesundheitsversorgung. Das gilt nicht nur für  „besondere Mütter“ mit Migrationsbiografie und ein oder mehreren Kindern mit Behinderung.

Und: Sie kritisierte auch die Integrationskurse. Dort wird nach ihrer Ansicht zu wenig Wert auf ein zur Alltagsbewältigung notwendiges Deutsch gelegt.

Inklusion in den ersten Arbeitsmarkt verbessern
Inklusion bedeutet auch höhere Chancen auf einen Arbeitsplatz auf dem sogenannten 1. Arbeitsmarkt. Und: Die Arbeit der Frauen und Männer in den Werkstätten für Behinderte muss sich finanziell mehr lohnen, stellte Christian Wolter, Mitglied der Personalvertretung von der Berliner Werkstatthilfe klar und forderte Änderungen im SGB IV. Löhne in Werkstätten müssen weg von der Grundsicherung. Die aktuellen Regelungen führen zu einer fast vollständigen Verrechnung u.a. des Weihnachtsgeldes durch das zuständige Sozialamt. Folge: Bei den Leuten kommt fast nichts an. Dies ist kontraproduktiv und nicht leistungsfördernd. 

Auch wenn es in den Schulen so nach und nach besser geht; die anschließende Integration der (jungen) Erwachsenen in den 1. Arbeitsmarkt ist dafür schlicht „eine Katastrophe“, stellte Gertie Müller vom Deutschen Autismusverband Deutschland fest. Es fehlen außerdem für junge Erwachsene, die an Autismus erkrankt sind, Formen des betreuten Einzelwohnens.

Dass die Forderung nach mehr gesellschaftlicher und sozialer Inklusion nicht nur Menschen mit Behinderung betrifft sondern „sich auf alle Menschen bezieht“, stellte Hans-Hermann Wilke von der Werkstatt der Religionen heraus. Er verwies darauf, dass es zunehmend Forderungen gibt, mehr ehrenamtliche Arbeit zu leisten. Aber:  „Wovon sollen die türkischen Mütter denn leben?“

Obgleich noch viel zu tun ist, läuft es zunehmend besser mit der inklusiven Bildung im Kita- und Schulbereich. Zwar ist die Finanzierung noch nicht ausreichend, aber gekürzt worden ist nicht, wie einige behaupteten. Ein Lob für seinen engagierten Einsatz für ein inklusives Bildungswesen erhielt der zuständige Staatssekretär Mark Rackles aus der Senatsbildungsverwaltung. Dort werden, so Hans-Hermann Wilke, auch immer mehr Mittel bereitgestellt.

Inklusion geht uns alle an
Gefragt, was für sie Inklusion bedeutet, antwortete Mechthild Rawert mit Hinweis auf die - die Menschenrechte stärkende - UN-Behindertenrechtskonvention: „Wer am Anfang nicht aussondert, muss später auch nicht mit großer Anstrengung wieder zusammenführen“. Und: „Nichts ohne uns über uns“. Inklusives Handeln bedeutet, gemeinsam konkrete Vorgaben und Ziele zu benennen, um  ein „inklusives Bewusstsein“ in jedem Lebens- und Politikbereich auszubilden. An keiner Stelle darf – so Rawert - die konsequente Einbeziehung der ExpertInnen in eigener Sache missachtet werden. Inklusion heißt auch: eine konsequente Partizipation der Betroffenen ermöglichen!

In der Diskussion, wurde auf „viele Baustellen“ vor allem im Gesundheitswesen hingewiesen:

  • Es muss mehr mehrsprachiges- und muttersprachiges Personal im Gesundheitswesen geben.
  • Es gibt aber kein Recht auf „muttersprachliche Behandlung“, auch nicht darauf. in der nicht-deutschen Muttersprache psychotherapeutisch behandelt zu werden.
  • Die Aussagekraft von Pictogrammen wurde unter folgenden Prämissen diskutiert: Was sind weltweit verständliche Symbole? Soll für jede Behinderungsart ein eigenes Symbol existieren? Würde die Mehrheitsgesellschaft all diese Symbole verstehen?
  • Notwendig ist der gegenseitige Respekt, dann kommt es auf einzelne Begrifflichkeiten auch nicht so an.
  • Viele Ärzte wollen gar keine Menschen mit Behinderung in ihren Praxen. Sie haben weder die notwendige Ausstattung noch wird das gesondert vergütet.

Deshalb - so Mechthild Rawert - hat die SPD- Viele ÄrztInnen wollen keine Behinderten in ihren Bundestagsfraktion die Forderung an die Kassenärztliche Bundesvereinigung aufgestellt, neu zu vergebenden Arztsitze an die Bedingung Barrierefreiheit zu knüpfen. Geplant werden soll ebenfalls ein umfassendes Förderprogramm zum barrierefreien Umbau für Arzt- und Physiotherapie-Praxen, Krankenhäuser und Rehabilitations-einrichtungen. So steht es im Antrag „UN-Konvention jetzt umsetzen - Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen“.

Gefordert wird von Rawert auch eine bessere medizinische Behandlung von (jungen) Erwachsenen. Sie will - vergleichbar der in der Kinder- und Jugendversorgung bewährten Sozialpädiatrischen Zentren - auch „Medizinische Zentren für Erwachsene mit geistiger oder mehrfacher Behinderung (MZEB)“, die als Modellprojekte eingerichtet und in die Regelversorgung überführt werden sollen. „Auch eine Finanzierung analog den Sozialpädiatrischen Zentren ist wünschenswert“, so Rawert.

Mechthild Rawert verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Maßnahmen zur Wohnraumanpassung einen bedeutsamen Anteil haben im Konzept der SPD-Bundestagsfraktion „Für eine umfassende Pflegereform - Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stärken“.

In der Abschlussrunde zeigten sich alle rundum zufrieden mit dem „Sommerfrühstück Inklusion“. Vernetzungen dieserart sind gut und führen weiter auf dem Weg hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Mechthild Rawert lud zu guter Letzt noch zu den Reichstagsführungen und weiteren Aktionen der Bundestagsabgeordneten ein und bekräftigte zum Schluss:

„Schauen Sie sich im Vorfeld der anstehenden Bundestagswahl 2013 die Programmatiken der Parteien, auch der SPD, genau an. Prüfen Sie die Parteien, was sie für eine gelingende Inklusion aller vorhaben und treffen Sie dann die Entscheidung, wem Sie Ihre Stimme geben werden“.

 

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