Magie liegt in der Luft. Mensch stelle sich vor: Haupteingang Rathaus Schöneberg,15:00 Uhr Mitteleuropäische Zeit, Berlin eiskalt und schneebedeckt. 50 Berlinerinnen und Berliner folgen der Einladung des Vereins Stolpersteine an der B96 und von Mechthild Rawert (MdB) zur „CrosskulTour - Fahrt für Demokratie, Toleranz und Akzeptanz“ im Rahmen der Veranstaltungsreihe CrossKultur. Gemeinsam sollen historische und vor allem aktuelle Tatorte rassistischer, homophober und antisemitischer Gewalt in Tempelhof-Schöneberg besucht werden - doch der bestellte Bus kommt nicht.
So geschehen am Samstag, den 8. Dezember 2012. Aber Berlin wäre eben nicht Berlin, wenn es die Spontanität, den Ideenreichtum und die Beharrlichkeit seiner Bürgerinnen und Bürger nicht hätte. Hierin mag das Magische liegen, denn statt Enttäuschung und Trübsinn walten zu lassen, wurde gemeinsam eine beispiellos tolle Veranstaltung gestemmt.
Kein Gast ist gegangen, wohl auch oder gerade wegen der Inhalte dieser Veranstaltung. Denn diese Themen lassen einen nicht los, sie erregen das Gemüt, sie berühren, sie verstören, sie lassen einen verkrampfen oder verstummen. Manchmal auch lassen sie Menschen aufbegehren. Aufbegehren gegen Rechtsextremismus und Rassismus.
Das Problem ist in der Runde schnell erkannt und es hat einen Namen: Rassismus. Kein Mensch ist frei von Vorurteilen oder Rassismen, dennoch werden diese selten hinterfragt. „Es muss offen über Rassismus gesprochen werden. Anders als in anderen Ländern tun wir uns hier in Deutschland leider sehr schwer damit. Anstatt beispielsweise über den Rassismus eines Thilo S. zu diskutieren, machen wir daraus eine Integrationsdebatte. Den Rassismus-Schuh will sich keiner anziehen und Empfindungen werden Betroffenen einfach da aberkannt, wo sie einfach mal akzeptiert werden müssten, wenn sich jemand rassistisch beleidigt, verletzt oder angegriffen fühlt.“, so Gabriele Gün Tank, Integrationsbeauftragte von Tempelhof-Schöneberg.
Auch Ibrahim Gülnar vom Mobilen Beratungsteam „Ostkreuz“ der Stiftung SPI teilte die Auffassung, dass der Dialog besonders wichtig ist, „da die Probleme oft viel komplexer sind als sie erscheinen.“
Die Zivilgesellschaft positioniert sich immer ganz klar gegen Rechtsextremismus. Doch bei Rassismus tut sie sich schwer damit, diesen überhaupt als solchen zu erkennen. Ein Beispiel dafür sind die Rechtspopulisten: Sie treten nicht rechtsextrem auf, geben sich sogar als Freunde Israels aus, schüren gleichzeitig Islamfeindlichkeit und tragen damit zur Ausbreitung von Rassismus bei.
Während zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtextremismus durch Aktionen wie der Fliegende Kaktus, ein Symbol gegen Rechtsextremismus in Neukölln oder der „Noteingang“-Aufkleber der BVG deutlich wird, riet Manja Kasten von der Mobilen Beratung gegen Rechtextremismus Berlin „Gesicht zu zeigen“: Das kann in Form von Aktionen geschehen oder durch offene Solidarisierung mit den Opfern von rechtsextremen Angriffen. Auf die Menschen zugehen, sie ansprechen, die Polizei rufen bei Vorfällen - denn eigener Schutz geht immer vor. Wichtig ist es, eine Anzeige bei der Polizei zu stellen, sich an Beratungsstellen wie „ReachOut“ und / oder an die Mobilen Beratungsteams in Berlin wenden. So wird Öffentlichkeit geschaffen und rassistische Vergehen und Straftaten in den Statistiken abgebildet. Das Bild wird realitätsgetreuer und damit kann wiederum anders gearbeitet werden.
Stationen und ProtagonistInnen der „Gedanken- und Informationsreise“ zu Tatorten rassistischer, homophober und antisemitischer Gewalt in Tempelhof-Schöneberg
Reale Stationen erscheinen dank der „BerichterstatterInnen“ vor unser aller Augen:
Zur Geschichte des Flughafen Tempelhofs gehört auch das erste Konzentrationslager des NS-Regimes, das sogenannte „Columbia-Haus“. Eugen Tröndlin vom „Verein zur Förderung für ein Gedenken der Naziverbrechen auf dem Tempelhofer Feld“ erinnerte an die Schicksale der Gegner des Nazi-Regimes, die hier gefoltert und ermordet wurden.
Heute leben viele türkische MigrantInnen in Berlin. Kaum einer weiß, dass in den 60er Jahren niemand nach Westberlin wollte, außer den türkischen ArbeitsmigrantInnen. Am Flughafen Tempelhof landeten die ersten ArbeitsmigrantInnen. Von ihren ersten Eindrücken und ihre Geschichten erzählte Cağla Ilk, Mitinitiatorin der „Route der Migration“, Architektin, Kunst- und Kulturschaffende.
In der Stierstraße in Friedenau sind über 50 Stolpersteine den ermordeten Jüdinnen und Juden gewidmet. Dies ist dem bürgerschaftlichen Engagement der Initiative Stolpersteine in der Stierstraße zu verdanken. Petra Fritsche stellte die Initiative vor und erinnerte an die jüdischen NachbarInnen, die hier früher gelebt haben.
Rechtsextremismus erobert sich Wände, Plätze, Räume. Thomas Protz, Redakteur der Stadtteilzeitung Schöneberg, erzählte vom Aufbegehren und dem Kampf gegen rechte Parolen. Manja Kasten von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin zeigte Wege auf, wie sich BürgerInnen vor Ort aktiv gegen rechtsextreme Taten und rechtspopulistische Parolen positionieren und schützen können.
Ibrahim Gülnar und Aylin Karadeniz, beide Projektkoordinatoren beim Mobilen Beratungsteam Ostkreuz der Stiftung SPI erklärten was hinter den Begrifflichkeiten Islamkritik, Islamfeindlichkeit, Islamphobie steckt. Was bewirken diese Begriffe und wie treten sie in Erscheinung?
Wie geht die so oft zitierte zivilisierte Gesellschaft mit Homosexualität im 21. Jahrhundert um? Petra Nowacki, stellvertretende Bundesvorsitzende der Schwusos, erzählte, warum Homophobie immer noch nicht aus den Köpfen zu kriegen ist.
Am PallasT fand im Anschluss die Kunstperformance „Demokratie schafft sich ab“ statt. Hier stand einst der Sportpalast, wo Goebbels zum „Totalen Krieg“ aufrief.