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Leibniz im Bundestag 2013: „Kriegskinder“, „Besatzungskinder“ leiden oft ihr Leben lang

Die Frage der eigenen Identität bewegt jeden Menschen. Die einen wachsen diesbezüglich mit einem sicheren Gefühl auf, die anderen quälen sich aber ihr Leben lang. 

Gerne habe ich das Angebot der Leibniz-Gesellschaft angenommen, um über dieses Problem mit WissenschaftlerInnen Hintergrundgespräche zu führen. Ich habe mich für Prof. Dr. Ingvill C. Mochmann entschieden, da mich das Thema „Kriegskinder“, „Besatzungskinder“ emotional nicht loslässt.

Erst vor drei Jahren habe ich die millionenfache Gruppe der Kriegs-, Besatzungs- und Wehrmachtskinder bewusst wahrgenommen. Damals kamen Menschen im Rentenalter zu mir, die sich noch heute fragen: Wer bin ich? Von wem stamme ich ab? Wer ist mein Vater? Wo ist mein Vater? Menschen, die häufig nach einem Leben mit (verdrängten) Diskriminierungen und Stigmatisierungen nun in den letzten Lebensjahren die Frage zur eigenen Herkunft und Identität für sich selbst zulassen - und noch einer Antwort bedürfen.

Viele der in Deutschland geborenen Kriegs-, Besatzungs- und Wehrmachtskinder - ich vermute im Ausland war es ähnlich - sind aufgrund der Stigmatisierungen, auch der Mütter, von diesen bzw. deren Familien ins Heim gegeben worden. Die damalige äußerst autoritäre Heimerziehung, die bei Jugendlichen häufig mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen statt mit Schul- und Berufsausbildung verbunden gewesen ist, tat dann noch ihr übriges.

2010 haben wir im Deutschen Bundestag den interfraktionellen Antrag „Opfern von Unrecht und Misshandlungen in der Heimerziehung wirksam helfen“ (Drs. 17/6143) verabschiedet. Im Vorfeld war es mir gelungen, die „Kriegskinder“, die „Besatzungskinder“ mit in diesen Antrag zu integrieren. Leider war nur eine sehr „kryptische“ Formulierung durchführbar, die es Vielen gar nicht möglich macht, rückzuschließen, wer denn damit gemeint ist. Demnach ist Folgendes zu lesen:

„III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, …

       -  für andere Opfergruppen in Abstimmung mit den betroffenen Ländern Regelungen zu finden.“

Vor diesem Hintergrund habe ich ein sehr interessantes und zielführendes Gespräch mit Frau Prof. Dr. Ingvill C. Mochmann geführt, aus dem der folgende Bericht hervorging:

GESIS bei „Leibniz im Bundestag 2013“ - Gespräch mit Mechthild Rawert, MdB
Im Rahmen der Veranstaltung „Leibniz im Bundestag 2013“ trafen sich die SPD-Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert, MdB, und GESIS Mitarbeiterin Prof. Dr. Ingvill C. Mochmann am 15. Mai 2013 im Reichstagsgebäude in Berlin. Frau Rawert interessierte sich für das Thema „Probleme von Wehrmachts- und Besatzungskindern im Nachkriegseuropa. Welche Lehren können wir für die Folgen militärischer Einsätze in heutigen Konfliktgebieten ziehen?“

An dem Gespräch haben auch Ute Baur-Timmerbrink, Leiterin von GI Trace, eine Organisation die Kinder von amerikanischen Besatzungskindern bei ihrer Suche nach dem Vater unterstützt, sowie Selini Tsekeridou-Knittel, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bundestagsbüro von Frau Rawert, teilgenommen. Das Gespräch konzentrierte sich auf die zwei großen Bereiche:

  • den Stand der Wissenschaft über die Lebensverläufe von Besatzungs- und Wehrmachtskinder, sowie
  • den Stand des Wissens über ähnlich Gruppen von Kindern aus heutigen Kriegs –und Bürgerkriegsländern, die sogenannten „Kinder des Krieges“, darunter auch Kinder, die von Mitgliedern der UNO-Friedenstruppen gezeugt werden.

Letztlich, ging es im Gespräch um die Frage, was die Politik in diesen Zusammenhang unternehmen bzw. bewirken kann. Viele für die Besatzungs –und Wehrmachstkinder zentrale Themen waren Frau Rawert bekannt da sie 2010 im Vorfeld des 15. HistorikerInnentreffens „Kriegskinder - Kriegsalltag - Kriegsverbrechen“ in Berlin, am 22. Oktober 2010, zu einem Pressegespräch in die Presselobby der SPD-Bundestagsfraktion im Reichstagsgebäude eingeladen hatte.

Zu Beginn fasste Frau Mochmann nochmals die Faktoren zusammen, die aus bisheriger Forschung von zentraler Bedeutung für die Kinder des Krieges in vergleichender und historischer Perspektive zu sein scheinen:

  • sozio-ökonomische, psychosoziale, medizinische/biologische und politische/juristische Faktoren,
  • Armut, fehlende Bildung, Vernachlässigung, gesundheitliche Probleme,
  • Schamgefühle, Tabuisierung der Herkunft, Lügen, Identitätskrisen, Trauma, fehlender Zugang zu Informationen über biologische Herkunft, Staatsangehörigkeitsfragen u.v.m.

Diese Punkte werden von allen Kinder des Krieges berichtet, seien es die Amerasians, die Wehrmacht –oder Besatzungskinder in Europa und Japan oder von Kindern der Vergewaltigungen im bosnischen, ruandischen oder kongolesischen Bürgerkrieg. Zusätzlich beeinflussen unterschiedliche historische, militärische, religiöse/ethnische und geographische Kontexte die Ausprägung dieser Faktoren auf die Kinder des Krieges im jeweiligen Konflikt.

Einer der großen Herausforderungen ist es, das inzwischen dokumentierte und kumulierte Wissen zu diesen Kindern, die weitestgehend in Kriegs- und Nachkriegszeiten unbeachtet bleiben, in sinnvolle politische, soziale, rechtliche und humanitäre Maßnahmen einzubinden. Da gerade diese Kinder oft „zwischen alle Stühle“ fallen - als „Kinder des Feindes“, „Kollateralschaden“, „Bastards“ u.ä. - werden sie in ihren Heimatländern und ihren Familien oft stigmatisiert, diskriminiert, tabuisiert und u.a. von diversen Unterstützungsprogrammen ausgeschlossen. Die traumatischen Erlebnisse werden in vielen Fällen dann auch oft bewusst und/oder unbewusst an die nächste Generation weitergegeben. Ganz im Sinne einer transgenerationalen Übertragung von Traumata.

Rückmeldungen aus dem 2008 gegründeten Netzwerk „International Network for Interdisciplinary Research on Children Born of War“ zeigten, dass ein ganz zentrales Thema – immer noch – der Zugang zu Archiven ist, aber nicht nur der Zugang sondern auch konkrete Hilfeleistungen. Während es z.B. in der USA und auch in Deutschland öffentliche Einrichtungen gibt, die Betroffene und auch Forscher bei ihren Anfragen behilflich sind, fehlen solche zentrale Stellen beispielsweise in Russland, Großbritannien und Frankreich. Gekoppelt mit dieser Problematik ist zudem die unterschiedliche Handhabung von Datenschutz, so dass Kinder des Krieges auch innerhalb Europa unterschiedliche Möglichkeiten haben über ihre biologische Herkunft zu erfahren. Ute Baur-Timmerbrink, die in ihrer Funktion als Leiterin von GI Trace häufig von verzweifelten Betroffenen, aber auch von weiteren Familienmitgliedern vor allem zunehmend Enkelkindern, kontaktiert wird, die in ihrer Suche nicht weiterkommen, betont wie wichtig es ist, dass die Politik auf dieser Ebene aktiv wird und über ihre außenpolitischen Kontakte versuchen, eine Lösung zu finden, ehe es für viele Besatzungs- und Wehrmachtskinder zu spät ist.

Somit ist es auch im Interesse einer weiteren europäischen Integration, dass diese Komponente der Kriegsgeschichte nach fast 70 Jahren seit dem 2. Weltkrieg größere Beachtung findet. Die Informationsbasis ist auch für die Forschung wichtig, weil sie dadurch eine empirische Grundlage für Analysen bietet. Einerseits durch den Zugang zu den Dokumenten, und andererseits durch die Betroffenen selbst, die in wissenschaftlichen Forschungsprojekten als Befragte ihr Wissen einbringen können und somit auch mehr über ihre eigenen Herkunft und Lebensverläufe erfahren können. In diesem Zusammenhang ist die größte Herausforderung aus wissenschaftlicher Sicht an Fördermittel für Forschungsprojekte zu kommen, die solche systematischen, auf empirischen Daten basierende, Analysen ermöglichen. Das Thema hat bis jetzt wenig Resonanz bei nationalen und internationalen Förderinstitutionen hervorgerufen.

Desweiteren wurde über die Situation in heutigen und zukünftigen Konflikten gesprochen und die Notwendigkeit, die Rechte der Kinder des Krieges in der Kinderkonvention zu berücksichtigen. Die Kinderkonvention basiert auf Rechten die teilweise aber nur Kinder einfordern können, wenn sie ihre Identität kennen. Gerade bei vielen Kindern des Krieges ist dies aber gerade das Problem – manche kennen entweder nur Vater oder Mutter oder keines der Elternteile. Hinzu kommt, dass in vielen nationalen Gesetzgebungen die Wahrung der Anonymität von Elternteilen eine höhere Priorität besitzt, als das Recht eines Kindes, die eigene biologische Identität zu erfahren. Da viele Kinder des Krieges – aber auch andere Kinder - Eltern unterschiedlicher Nationalität haben, kann dies umfangreiche Konsequenzen u.a. für die Staatsbürgerschaft des Kindes haben. In diesem Zusammenhang wurde über die Rolle der UNO-Friedenstruppen gesprochen sowie über das Militär generell und die Wichtigkeit, diese verstärkt mit in das Thema einzubeziehen. Die Verantwortung für die Kinder, die aufgrund mehr oder weniger freiwilliger Beziehungen zwischen Soldaten und einheimischen Frauen entstehen, wird von den meisten Nationen und ihren Militärs ignoriert. Nur die UNO hat sich bisher mit diesem Thema beschäftigt und eine Resolution verabschiedet. Wie die Dokumentation „Gefährliche Helfer - Sexuelle Gewalt durch UN-Soldaten“ allerdings eindrucksvoll zeigt, ist hier die Einhaltung der Vorschriften durch Truppenmitglieder und die Unterstützung der Betroffenen in der Praxis weit entfernt von den Zielen der Resolution.

Frau Rawert zeigte sich an dem Thema sehr interessiert und es wurden einige Ziele und Kooperationen definiert die kurz- und mittelfristig umgesetzt werden sollen.
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Prof. Dr. Ingvill C. Mochmann ist Leiterin des Europadatenlabors für international vergleichende Sozialforschung beim GESIS-Leibniz Institut für Sozialwissenschaften, Professorin für internationale Politik an der Cologne Business School und Fellow bei der Harvard Humanitarian Initiative.

Sie hat 2008 das Netzwerk „International Network for Interdisciplinary Research on Children Born of War – INIRC“ gegründet, welches inzwischen über 120 Mitglieder aus der ganzen Welt hat. Dazu zählen sowohl Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, Betroffene und zunehmend deren Enkelkinder, Medienvertreter, Mitarbeiter nationaler und internationaler Organisationen. Das Netzwerk arbeitet eng mit BOW i.n., welches die Interessenvertretung der nationalen Betroffenenorganisationen ist. Für weitere Informationen:
http://www.childrenbornofwar.org

 


V.l.n.r.: Ute Baur-Timmerbrink (GI Trace), Prof. Dr. Ingvill C. Mochmann (GESIS), Mechthild Rawert (MdB)