Am Europäischen Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung am 5. Mai 2014 fanden in Kooperation mit der Aktion Mensch bundesweit über 750 Veranstaltungen unter dem Motto: „Schon viel erreicht, noch viel mehr vor“ statt. Dazu gehörte auch die große Berliner Protestveranstaltung vor dem Bundeskanzleramt und dem Brandenburger Tor. An ihr nahmen über 1000 Menschen mit und ohne Behinderungen teil, darunter viele VertreterInnen von Berliner Behinderten- und Selbsthilfeverbänden und Initiativen, Sozialverbänden und aus der Politik.
„Ohne Bundesteilhabegesetz keine Inklusion“
Die von der Bundesinitiative „Daheim statt Heim“, dem Berliner Behindertenverband, dem Landesverband Berlin-Brandenburg des Sozialverbandes Deutschland (SoVD) organisierte Demonstration unter dem Motto „Ohne Bundesteilhabegesetz keine Inklusion“ begann traditionsgemäß vor dem Bundeskanzleramt. Die Erwartungen an ein an Gleichstellung orientiertes Regierungshandeln sind hoch - das Vertrauen in die Realisierung deutlich geringer.
Gefordert wird: Die Unterstützung behinderter Menschen muss aus der Sozialhilfe herausgelöst und einkommens- und vermögensunabhängig sowie bedarfsgerecht in einem Bundesteilhabegesetz geregelt werden. Menschen mit Behinderung dürfen vom Einkommen aus ihrer Erwerbsarbeit derzeit maximal 1600 Euro Einkommens für sich behalten. Das eigene Vermögen darf den Betrag von 2600 Euro nicht übersteigen. Dies bedeutet für Menschen mit Behinderung: Sie können ihr Einkommen nicht steigern, obwohl sie - wie Menschen ohne Behinderung - auch Berufe ausüben, die höher vergütet werden. Es lohnt sich für sie finanziell nicht, arbeiten zu gehen.
Gefordert wird weiterhin:
- die zügige Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention
- die Schaffung von politischen Rahmenbedingungen für eine echte Inklusion: ein gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderung von Beginn an
- volle Teilhabe, ein würdevolles Leben, selbstbestimmtes Wohnen, bedarfsgerechte Assistenzleistungen, die Umsetzung des Grundsatzes „ambulant vor stationär“
- kein Mensch darf wegen seiner/ihrer Behinderung oder ihren/seinen finanziellen Verhältnissen in eine stationäre Einrichtung eingewiesen werden.
Vom Bundeskanzleramt ging es zum und durchs Brandenburger Tor zur Schlusskundgebung auf dem Pariser Platz. Auf einer großen Bühne wurde in verschiedenen Gesprächsrunden Interviews geführt. So wurden die Behindertenpolitischen SprecherInnen der Bundestagsfraktionen zum Thema Bundesteilhabegesetz befragt. Kerstin Tack von der SPD-Bundestagsfraktion sicherte zu, dass es ein umfassendes Bundesteilhabegesetz geben wird. Es könne hier kein Jetzt sofort geben. Denn der Grundsatz „nichts ohne uns über uns“ muss auch umgesetzt werden und VertreterInnen von Selbsthilfeinitiativen und Verbänden die Entscheidung über die vorliegenden aber noch nicht geeinten Vorschläge der Bundes- und Länderregierungen auch tatsächlich mitgestalten können. „Aber das Bundesteilhabegesetz kommt!“.
Zu Wort kamen auch die VertreterInnen einzelner Verbände der Behindertenhilfe und -selbsthilfe, unter ihnen: Ursula Engelen-Kefer, Vorsitzende des Arbeitskreises Sozialversicherung des SoVD, Karl Finke, Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderungen des Landes Niedersachsen und Bundesvorsitzender der „Arbeitsgemeinschaft "Selbst Aktiv" - Menschen mit Behinderungen in der SPD“, Ulla Schmidt, Bundestagsvizepräsidentin, Gesundheitsministerin a.D. und jetzige Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Sie alle betonten das Recht auf Teilhabe, das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben auch für Menschen mit Behinderungen. Sie erwarten von allen Bürgerinnen und Bürgern Einsatz für eine inklusive Gesellschaft.
„Café der Inklusion“ auf dem Pariser Platz
Anschließend lud die Aktion MENSCH anlässlich ihres 50. Jubiläums zu einem „Café der Inklusion“ auf dem gesamten Pariser Platz ein. Viele Initiativen konnten sich vorstellen, an Tischen und Bänken entstanden im „Café der Inklusion“ Begegnungen von Menschen mit und ohne Behinderung. Wunderbar auch das Rahmenprogramm mit dem Musiker Andreas Bourani, den Bands „Station 17“ und „Bitte Lächeln!“, dem Circus Sonnenstich, dem Blaumeier Atelier und Filmen von Gabriel Nistor, Raúl Krauthausen und Ottmar Miles-Paul. Ein besonderes Highlight waren die Gesprächsrunden mit den Paralympics-Goldmedaillengewinnerinnen von Sotschi, Anna Schaffelhuber und Andrea Rothfuss und mit der Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, der früheren Paralympics-Biathletin Verena Bentele.
Gemeinsam für Gleichberechtigung starkmachen
Alle Menschen sollen gleichberechtig an der Gesellschaft teilhaben können. Dafür müssen viele Barrieren abgebaut werden. Inklusion und Barrierefreiheit soll in Deutschland Wirklichkeit werden.
Für dieses Ziel machen sich viele Menschen mit und ohne Behinderungen stark, so auch ich: als Bürgerin, als Bundestagsabgeordnete, als Mitglied des Berliner Landesvorstandes der „Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv - Menschen mit Behinderungen in der SPD“ und als Vorsitzende des Unterausschusses Behinderung und Inklusion der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.
Entstanden ist der Protesttag 1992 auf Initiative des Vereins Selbstbestimmt Leben, einer Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung. Die Aktion Mensch hat es sich seit 1998 zur Aufgabe gemacht, das Engagement rund um den 5. Mai zu bündeln. Ausgehend von der sozialpolitischen Lage entwickelt sie jedes Jahr ein übergreifendes Motto, unter das die Organisationen und Verbände ihre Veranstaltungen stellen können. Passend zum jeweiligen Motto bietet die Aktion Mensch den Teilnehmern Materialien für die Öffentlichkeitsarbeit an sowie Aktionspakete mit verschiedenen Anregungen und unterstützt Projekte auch finanziell. Durch ihr konsequentes Engagement ist es der Aktion Mensch gelungen, über die Jahre immer mehr Aufmerksamkeit auf die Anliegen von Menschen mit Behinderung zu lenken.
Der Europäische Protesttag ist nicht nur für sozialpolitisch engagierte Menschen ein fester Termin im Kalender - so auch für mich.