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„Wir Besatzungskinder können BrückenbauerInnen sein.“

In Deutschland sind zwischen 1945 und 1955 bis zu 250.000 Kinder geboren worden, die eine einheimische Frau zur Mutter und einen Besatzungssoldaten aus den USA, der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich zum Vater haben. In Österreich sind es mindestens 20.000 Kinder. Bei den meisten dieser „Besatzungskinder“ steht in ihrer Geburtsurkunde „Vater unbekannt“. Ihr Schicksal war häufig mit gravierenden Tabuisierungen in ihrem familiären und sozialen Umfeld verbunden. Die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater begleitet die meisten ein Leben lang. Ihr Schicksal und ihre häufig mit großen Schwierigkeiten behaftete Suche hat bei der Aufarbeitung der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte bisher zu wenig Aufmerksamkeit bekommen.

70 Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges, in dessen Folge in Deutschland und Österreich Besatzungszonen eingerichtet wurden, suchen viele der heute 60- bis 70-jährigen Frauen und Männer nach ihren Vätern. Sie begeben sich auf die Suche, wollen „die eigene Biografie ordnen und den Leerstellen Sinn geben“ - ein noch längeres Schweigen ist keine Lösung mehr.

Premiere im sehr gut gefüllten Besucherzentrum des Auswärtigen Amtes: Hier stellte Ute Baur-Timmerbrink, selbst Besatzungskind aus Österreich, ihr Buch "Wir Besatzungskinder  Töchter und Söhne alliierter Soldaten erzählen" am 23. März 2015 erstmalig in Berlin vor. An der Podiumsdiskussion nahmen auch die Psychologin PD Dr. Heide Glaesmer, Uniklinikum Leipzig, die Historikerin Dr. Sabine Lee, Birmingham, und Margot Jung, eine der im Buch Porträtierten, teil. Es moderierte Dr. Patrick Oelze, Programmleiter im Christoph Links Verlag.

Aus dem Publikum kam ein Vorschlag der mich sehr bewegt hat: „Wir Besatzungskinder können BrückenbauerInnen sein“. Das brauche die Welt.

Warum das Buch „Wir Besatzungskinder“?

Das Buch enthält neben zwölf Portraits von Besatzungskindern aus Deutschland und Österreich aufklärende und einordnende Beiträge zur sozial-historischen und politischen Situation der Nachkriegszeit.

„In meinem Buch sollen Schicksale von Besatzungskindern erzählt werden, die sich mit den ungeklärten Fragen ihrer Herkunft nicht abfinden wollten. Ihre Reise in die Vergangenheit bringt Schmerz, Unsicherheit, aber auch Hoffnung. Das Buch soll den Besatzungskindern wie den Leserinnen und Lesern Mut machen, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen, damit ungeklärte Fragen oder gar Traumata nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werden“, so Ute Baur-Timmerbrink.

Vater gesucht - ein Tabu aus Kriegs- und Nachkriegszeiten

Die Frage der eigenen Herkunft und der eigenen Identität bewegt jeden Menschen. Während die meisten von uns mit einem sicheren Gefühl aufwachsen, da beide Elternteile bekannt sind, quälen sich andere mit den existentiellen Lebensfragen „Von wem stamme ich ab?“ und „Wer bin ich?“.

Es sind nicht nur die zwischen 1945 bis 1955 geborenen „Besatzungskinder“ selber die sich für die eigenen familialen Wurzeln interessieren, sondern mittlerweile auch die Enkelkinder, die fragen „Wer war mein Opa?“. Mit ihren Fragen stupsen sie die ins Alter gekommenen Menschen an, die in ihrem Leben oft Angst hatten vor der Frage „Wer und wo ist dein Vater?“. Aufgrund ihrer Vaterlosigkeit und als „uneheliches Kind“ haben sie häufig Diskriminierung und Stigmatisierung erfahren.

Sabine Lee erinnerte an das Fraternisierungsverbot, welches es den Soldaten eigentlich unter Strafandrohung verboten hat, Kontakt mit der deutschen Bevölkerung, den deutschen Frauen, zu haben. Dieses Verbot scheiterte in der Realität und wurde dann auch aufgehoben.

Viele der Mütter haben das Familiengeheimnis mit ins Grab genommen, bei anderen ist etwas im Nachlass zu finden. Auch ihr Leben als Alleinerziehende war in der Nachkriegszeit zumeist nicht einfach: die Tatsache, als nichtverheiratete Frau ein Kind zu haben galt in der Bevölkerung als verwerflich - und dann noch das Kind eines „Ausländers“, eines ehemaligen Feindes. Die Frauen wurden als „Amiliebchen“, „Russenhure“, „Britenschlampe“ angesehen. „In der Gesellschaft, in der Familie spukte bei vielen noch die nationalsozialistische Ideologie des „3. Reiches“ im Kopf, wonach alles was ausländisch war, verdammt wurde“, so Heide Glaesmer. Viele der Frauen waren selber „schutzbedürftig“, waren häufig Flüchtlinge. Sie habe „große Hochachtung“ vor vielen dieser Mütter, denn diese hätten sich so gut es in der damaligen schweren Zeit ging, um ihr Kind gekümmert, erklärt Ute Baur-Timmerbrink.

Forderungen an die Politik und die Zivilgesellschaft

Eine große Herausforderung ist es, bisher vorhandenes Wissen zu einem solchen Tabu in sinnvolle politische, soziale, rechtliche und humanitäre Maßnahmen einzubinden.

In den bisherigen Diskussionen sind folgende Forderungen immer wieder benannt bzw. an mich herangetragen worden.

1. Zugang zu Archiven / Informationen zur biologischen Herkunft ermöglichen

  • die Archive sowohl im Ausland als auch in Deutschland zugänglich machen
  • Klärung der Frage, ob auch die Enkelkindergeneration ein Recht auf Akteneinsicht bekommen kann

2. Anerkennung / Hilfestellung

  • für die „Besatzungs- bzw. Kriegskinder“ Ansprechstellen auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene schaffen
  • Regelungen zur Staatsangehörigkeit treffen

3.   Konflikte heute / Rechtsfragen / Zuständigkeiten

  • Kinderrechte und die entsprechenden Gesetze sind in den verschiedenen Staaten sehr unterschiedlich ausgestaltet. Dies führt zu Nachteilen unterschiedlicher Art für Kinder mit Eltern aus verschiedenen Staaten - nicht nur für Besatzungs- und Kriegskinder. Wie kann mensch in solchen Situationen die Rechte der Kinder sichern bzw. was ist die Situation in den EU-Ländern bezüglich der Wehrmachts- und Besatzungskinder?
  • ein „Additional Protocol for Children Born of War“ einführen. Die Kinderkonvention basiert darauf, dass Kinder Rechte haben. Diese können sie aber teilweise nur einfordern, wenn sie ihre Identität kennen. Dies ist aber grade das Problem von Kindern des Krieges - in der Vergangenheit und heute. Manche Kinder kennen weder Vater noch Mutter oder nur eines der beiden Elternteile. Auch die, die beide kennen, wissen oft nicht, welche nationale Identität sie wählen sollen oder wie sie ihre Rechts laut Kinderkonvention einfordern können (zum Beispiel Kinder von Blauhelmsoldaten).

Einladung: Besatzungskinder und Wehrmachtskinder - Auf der Suche nach Identität und Resilienz

Am 8. Mai 2015 jährt sich zum 70. Mal das Ende des Zweiten Weltkrieges. Zu erwarten sind zahlreiche Gedenkfeiern und wissenschaftliche Tagungen über die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus. Aber noch immer gibt es eine Bevölkerungsgruppe, die als sogenannter ‚Kollateralschaden‘ des Krieges aus dem kollektiven Gedächtnis der Nationen schlichtweg herausfällt. Geschichts-, Politik-, Erziehungs- und LiteraturwissenschaftlerInnen thematisieren daher auf der Tagung „Besatzungskinder und Wehrmachtskinder - Auf der Suche nach Identität und Resilienz“ Bedingungen und Folgen des Aufwachsens von Besatzungs- und Wehrmachtskindern in Nachkriegseuropa. Veranstaltet wird die Tagung von der Universität Köln und vom GESIS-Leibniz Institut für Sozialwissenschaften am 7.-8. Mai 2015 in Köln. Hier kommen auch Betroffene zu Wort, die darüber berichten und reflektieren werden, wie es aus ihrer Sicht gewesen ist, als „Kind des Feindes“ aufzuwachsen.

Das Ziel der Tagung ist es aufzuzeigen, dass bis heute Spuren des Zweiten Weltkrieges in den europäischen Gesellschaften präsent sind und auch weiterhin Generationen beeinflussen werden. Es gilt aus der Vergangenheit zu lernen und dazu beizutragen, die Situation der Kinder des Krieges in heutigen Krisenregionen zu verbessern.

Die Veranstaltung ist für Interessierte offen. Da die Teilnehmerzahl jedoch begrenzt ist, muss eine verbindliche Anmeldung bis zum 31. März 2015 erfolgen. Ich freue mich auf eine Begegnung mit Ihnen dort.