Hauptmenü

Cinema Rouge: „Amour“ und „Gute Pflege“ mit der SPD-Schöneberg

„Sur le pont d’Avignon, l’on  y danse, l’on y danse, sur le pont d’Avignon“ singt Georges Laurent. Vor einigen Monaten erlitt seine Frau Anne Laurent einen ersten Schlaganfall. Nach einer fehlgeschlagenen Operation ist sie zunächst rechtsseitig gelähmt, später vollkommen, kann nicht mehr sprechen. Das Lied weckt Erinnerungen. Wie sie in ihrem Krankenbett liegt, versucht sie ihrem Mann nachzueifern. Die Melodie so vertraut und doch jedes Wort, jede Silbe eine Herausforderung.

 

Film Matinée im Kino Xenon

Am 6. Juni 2015 veranstaltete die SPD-Schöneberg gemeinsam mit mir eine Film Matinée mit anschließender Diskussionsrunde zum Thema Pflege. Der preisgekrönte Film „Amour“ (2012) passte perfekt zu der Veranstaltung. Er greift in tief berührender Weise das Verhältnis zwischen einer pflegebedürftigen Frau und ihrem pflegenden Ehemann, beschreibt eine lebenslange Liebe in einer hoch belasteten Pflegesituation auf. Anschließend diskutierten Diane Hall-Freiwald (Beraterin im Pflegestützpunkt Schöneberg) und Thorsten Schuler (Kontaktstelle Pflege Engagement Tempelhof-Schöneberg) und ich (Berichterstatterin für die Soziale Pflegeversicherung der SPD-Bundestagsfraktion) mit den Anwesenden über gute und menschenwürdige Pflege. Ich danke der SPD-Schöneberg für die tolle Idee und Organisation und Anett Baron für eine wunderbare Moderation. 

„Amour“

„Amour“- zu Deutsch „Liebe“- ist ein Spielfilm des österreichischen Regisseurs und Drehbuchautors Michael Haneke über die gemeinsamen letzten Monate des Ehepaares Laurent nachdem Anne Laurent einen Schlaganfall erleidet und pflegebedürftig wird. Sie fürchtet sich vor Ärzten, will nicht ins Krankenhaus und schon gar nicht in ein Pflegeheim. Das muss ihr Mann ihr versprechen. Nach dem Schlaganfall folgt eine Operation, sie geht schief, fortan ist Anne rechtsseitig gelähmt. Ihr Zustand verschlechtert sich stetig - nur durch seltene Lichtblicke erscheint das Leben noch lebenswert. In einer Szene bekommt Anne einen elektronischen Rollstuhl und kann sich wieder selbstständig in der Wohnung bewegen. Wie ein Kind, das Laufen lernt, fährt sie schnell von links nach rechts, von vorne nach hinten. Ein Lächeln huscht ihr übers Gesicht - und schon ist es wieder verschwunden.

An einem anderen Morgen weckt Georges Anne und stellt fest, dass alles nass ist. Sie schämt sich, er versucht sie zu besänftigen. Es hilft nichts. Wie ein trotziges Kind lässt sie sich waschen. Als Georges erkennt, dass er mit der Situation überfordert ist, stellt er eine Pflegekraft ein. Die NachbarInnen helfen mit den Einkäufen und trotzdem wird das Zusammenleben immer schwerer. Anne will nicht mehr leben - nicht so. Wenn die Tochter des Ehepaares, Eva, zu Besuch kommt, möchte Anne nicht, dass ihre Tochter sie in ihrem Zustand sieht. Eva wohnt in London, Georges und Anne in Paris. Vom alltäglichen Leben ihrer Eltern bekommt Eva wenig mit, wenn sie zu Besuch kommt, redet sie auf Georges ein, Anne endlich in ein Pflegeheim zu geben. Doch Georges kann sein Versprechen an Anne nicht brechen.

Der Film ist fokussiert auf die lebenslange bedingungslose Liebe zwischen Anne und Georges. Gleichsam lassen sich einige Szenen und Emotionen auf die reale Situation von pflegenden Angehörigen und pflegebedürftigen Menschen hier in Deutschland, hier in Berlin übertragen. Genau aus diesem Grund wählte die SPD-Schöneberg den Film für die Veranstaltung aus.

Eine der ersten Herausforderungen, die Anne und George nach der OP zusammen meistern, ist das Aufstehen aus dem Rollstuhl. Anne hat den Wunsch in einem der Wohnzimmersessel zu sitzen, dazu muss Georges ihr aus dem Rollstuhl helfen. Unbeholfen steht er vor ihr. Probiert sie zu heben. Endlich gibt Anne ihrem Mann Anweisungen. „Stell dich mit deinen Knien vor meine. So kann ich nicht wegrutschen. Dein rechter Arm hier unter meinem Arm auf meinen Rücken. Und jetzt vorsichtig heben.“ Georges ist für sein Alter sehr fit und beweglich, hat aber auch Schwierigkeiten mit dem Gehen. Je stärker Annes Pflegebedürftigkeit wird, desto mehr stößt auch er an seine Grenzen. In Gesprächen mit der Tochter wirft sie ihm vor, die Situation nicht im Griff zu haben. Sie fragt ihn wie er sich die Zukunft vorstellt, wie es weiter gehen soll. Georges Laurent ist ein ironischer Mann. Er entgegnet nüchtern: „Ja, wie soll es schon weiter gehen? Es wird immer schlechter und schlechter und irgendwann…da ist es vorbei.“ Der Dialog zeigt, dass Georges sich der ausweglosen Situation bewusst wird.

Schließlich stellt Georges zwei Pflegekräfte ein. Die erste Pflegekraft wird sehr kompetent und durchaus sympathisch dargestellt. Mit gelernten Handgriffen zeigte die Pflegerin Georges den Windelwechsel und das Duschen. Gemeinsam trinken die beiden einen Kaffee, bevor die Pflegerin abkassiert. Ganz im Kontrast dazu steht das Portrait der zweiten Pflegekraft. Mit einem osteuropäischen Akzent versehen stellt sie alles da, wo vor Anne sich fürchtet. So wird Anne nach einem groben Haarekämmen von der Pflegerin gezwungen, einen Blick in einen Spiegel zu werfen, den sie ihr vors Gesicht drückt. Anne will nicht und blickt zur Seite. Die Pflegerin greift Annes Kinn und zieht es Richtung Spiegel. Eine wehrlose Anne versucht zu sprechen - es gelingt ihr nicht.

Die Situation ist grausam und rückt ambulante Pflege in ein schlechtes Licht. Georges bekommt von der Misshandlung Wind und kündigt der Pflegekraft. Das Gespräch schlägt schnell um in einen unsachlichen Streit. Die Pflegekraft bringt wenig Verständnis für die Situation des Ehepaares Laurent auf. Sie beschimpft Georges Laurent als „verwitterten alten Mann“. An dieser Stelle hätte ich mir gewünscht, dass der Film stärker auf ein Miteinander der Pflege durch Angehörige und Unterstützung durch Ambulante Pflegedienste eingeht. Die Frage „Selber Pflegen oder Ambulante Pflege?“ ist keine „Entweder-oder“-Entscheidung.

Der Film lässt aus, wann Georges den Entschluss gefasst hat, Annes Leiden ein Ende zu setzen oder ob die Entscheidung spontan fällt. Es ist abends, George bereitet sich aufs Schlafen gehen vor, als er aus Annes Zimmer Hilferufe hört. Das ist nicht ungewöhnlich, oft ruft sie stundenlang „Hilfe, Hilfe, Hilfe, Hilfe“. Er geht zu ihr, setzt sich auf die Bettkannte, nimmt ihre Hand in seine und versucht sie zu beruhigen. Zuletzt hat sie auf seine Berührungen oft reagiert. Lange erzählt er ihr eine Geschichte aus seiner Jugend. Dann zieht er ein Kissen heran und drückt es mit seinem gesamten Oberkörper auf Annes Gesicht. Was folgt sind 35 endlos lange Sekunden, in denen Anne zunächst mit ihren Beinen strampelt und dann immer weniger, bis sie aufhört.

Diskussion: „Pflege in Schöneberg“

Der nachwirkenden Intensität des Films war es geschuldet, dass die Diskussionsrunde erst etwas schwer anlief.

Die erste Frage bezog sich auf die Vernetzung von Einrichtungen und Beratungsstützpunkten untereinander im Kiez. Diane Hall-Freiwald betonte, dass eine Vernetzung über den Geriatrisch-Gerontopsychiatrischen Verbund Schöneberg sichergestellt wird. Der Verbund bündelt gewissermaßen das Angebot an Beratungsstellen sowie ambulanten, teil- und vollstationären Einrichtungen im Bezirk Tempelhof Schöneberg. Eine Verbindung zwischen Pflege und pflegenden Angehörigen bietet die Kontaktstelle Pflege Engagement Tempelhof-Schöneberg, von der Thorsten Schuler als Repräsentant da war. Die Kontaktstelle führt Ehrenamtliche und pflegebedürftige Personen zusammen. Dabei geht es nicht darum zu pflegen, sondern Zeit miteinander zu verbringen: sei es gemeinsam zu spielen, Spazieren gehen oder Geschichten erzählen. Wichtig ist, so auch Anett Baron, dass das Ehrenamt unentgeltlich, freiwillig und gemeinwohlorientiert ist. Nie dürfte es in Konkurrenz zur professionellen Pflege stehen, weil sonst ein grauer Markt entsteht. Ehrenamtliche sind auch in der Pflege wichtig. Den professionellen Pflegefachpersonen aus den ambulanten Pflegediensten fehlt leider häufig die Zeit für das rein kommunikative menschliche Beisammensein.

Je ein Pflegestützpunkt in Tempelhof und Schöneberg

Der Bezirk verfügt derzeit über zwei Pflegestützpunkte. Diese beraten kostenfrei, unabhängig und trägerneutral. Frau Hall-Freiwald arbeitet im Pflegestützpunkt in der Pallasstraße. Die beiden Pflegestützpunkte im Bezirk sind sehr gut ausgelastet. Vor dem Aufbau eines weiteren Stützpunktes sollte jedoch die Möglichkeit zum Ausbau der bereits bestehenden Pflegestützpunkte geprüft werden. Klar ist: „Mehr Beratung bedeutet mehr Chancengleichheit“.

In „Amour“ will Anne unter keinen Umständen in ein Pflegeheim. Auch Diane Hall-Freiwald und Thorsten Schuler bestätigen, dass es teilweise hohe Ressentiments gegen Pflegeeinrichtungen in Berlin gibt. Besonders in Familien mit Migrationsbiografien fällt auf, dass ambulante als auch stationäre Pflegeeinrichtungen häufig abgelehnt werden. Hier müssen Vorurteile durch Aufklärung und Transparenz abgebaut werden. Im Hinblick auf pflegende Angehörige ist Unterstützung, auch von staatlicher Seite, weiterhin essenziell. Meine Meinung dazu ist klar: „Pflegende Angehörige verdienen die höchste Wertschätzung und die Unterstützung der Gesellschaft für ihren Dienst am Menschen. Dafür setzen sich die SPD und ich seit vielen Jahren ein.“.

Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf

Seit dem 1. Januar dieses Jahres gilt das Familienpflegezeitgesetz. Es ermöglicht bei einem akut auftretenden Pflegefall eines Familienangehörigen das Fernbleiben vom Arbeitsplatz von bis zu zehn Tagen ohne Vorankündigung bei Lohnfortzahlen. Diese und andere neue Rechtsansprüche dienen dazu, den Beteiligten in der häuslichen Umgebung Zeit zu geben, bedarfsgerechte Pflegeangebote für die individuelle Situation auszuloten. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, sich vor einer möglichen Pflegebedürftigkeit im Alter über Angebote zu informieren um im Falle des Falls nicht handlungsgelähmt zu sein. Es existiert ein verbürgtes Recht auf Pflegeberatung - auch wenn noch keine Pflegebedürftigkeit vorliegt.

Bei einem pflegenden Angehörigen hatte sich der Eindruck festgesetzt, als ob das Pflegegeld, als ob die finanziellen Leistungen, von denen häufig pflegende Angehörige profitieren, gekürzt worden seien. Das ist definitiv nicht der Fall! Ganz im Gegenteil - sie wurden erhöht. Bitte erkundigen Sie sich hier. Mit dem am 1. Januar diesen Jahres in Kraft getretenen Pflegestärkungsgesetz  1 sind zahlreiche Leistungsverbesserungen Wirklichkeit geworden. Die meisten Menschen wünschen sich im Alter selbstbestimmt in der eigenen Häuslichkeit leben zu können. Dafür kämpfe ich auch als Pflegepolitikerin im Deutschen Bundestag.

Ich danke der SPD-Schöneberg für die Organisation dieser wunderbaren Veranstaltung und ganz besonders auch Diane Hall-Freiwald vom Pflegestützpunkt in der Pallasstraße und Thorsten Schuler von der Kontaktstelle Pflege Engagement Tempelhof Schöneberg für ihr Kommen und informatives Mitdiskutieren!