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Behinderte und/oder chronisch kranke Menschen und ihre Familien nicht alleine lassen

Das Engagement und der Einsatz einzelner Menschen kann viel erreichen. Das ist am Beispiel von Sevgi Bozdağ, Initiatorin und 1. Vorsitzende des Vereins InterAktiv e.V. (Verein zur Förderung eines gleichberechtigten Lebens für Menschen mit Behinderungen) eindrucksvoll erkennbar. Ziel des Vereins InterAktiv e.V. ist die Unterstützung von zumeist türkeistämmigen Familien mit einem behinderten und/oder chronisch kranken Angehörigen. Bei InterAktiv finden sich Menschen verschiedenster Gesellschaftsschicht, Religion, Berufssparten mit vielfältigem Wissen zusammen. Hier können sie ihre Erfahrungen und Kompetenzen austauschen und gemeinsam zukunftsweisende Projekte auf den Weg bringen: Projekte, die vor allem auf die besonderen Gesundheits-, Pflege- und Teilhabe-“risiken“ von Kindern und Jugendlichen mit vielfältigen Entwicklungsherausforderungen eingehen und auch um die besonderen Belastungen der pflegenden und betreuenden Familien wissen und entsprechende Angebote vorhalten. Ermöglicht werden soll ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben und eine soziale und gesellschaftliche Mitwirkung und Teilhabe.

2011 wurde der Verein gegründet. Mit viel ehrenamtlichen Engagement wurde eine wunderschöne Beratungsstelle in der Wilhelmshavener Str. 32, 10551 Berlin (Nähe U-Bahnhof Birkenstraße) für Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten, insbesondere mit Migrationsbiografie, geschaffen. Hier war ich am 25. August 2015 zu Besuch und habe neben Frau Bozdağ höchst fachkompetente und freundliche Mitarbeiterinnen - Lydia Brockes, Pinar Can, Nurten Ataman - kennengelernt. Herzlichen Dank für die vielen Informationen und die freundliche Begegnung!

Mütter und Väter empowern

Familien mit Zuwanderungsgeschichte sind in ihrer Betroffenheit weiter entfernt von den Bewältigungsstrategien und Ressourcen, die mit der Inanspruchnahme sozialstaatlicher Hilfestellungen verbunden sind, als viele „Bio“-Deutsche. Viele der Mütter leben, unter anderem aus Scham, häufig isoliert. Gerade Frauen mit Kopftüchern fühlen sich seitens des medizinischen und pflegerischen Personals häufig als „minderwertige Person“ behandelt, fühlen sich als Mutter eines behinderten Kindes zu wenig ernst genommen. Als inklusionshemmend wird vor allem der unzureichende Zugang zum Gesundheitssystem beklagt. Dazu gehören insbesondere die mangelnde Barrierefreiheit bei ÄrztInnen und Apotheken. Barrierefreiheit gibt es aber auch viel zu wenig auf dem bezahlbaren Wohnungsmarkt und im ÖPNV.

Als wirkungsvolle Empowerment-Strategie hat sich der Aufbau und die Begleitung von Selbsthilfegruppen für Familien mit Zuwanderungsgeschichte, in denen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit körperlichen, kognitiven und seelischen Beeinträchtigungen sowie mit chronischen Erkrankungen leben, erwiesen.

In den muttersprachlichen Mütter- und Vätergruppen erfahren die Mütter und Väter eine Aufklärung zu den einzelnen Behinderungsformen - aber ebenso auch die Stärkung des Betroffenenwissens. Gerade die Frauen machen hier die Erfahrungen der gemeinsamen Sorge und der gegenseitigen Unterstützung im kulturellen Kontext. Verhindert wird nicht nur ein verstärkter Rückzug aus der Gesellschaft - ganz im Gegenteil: Es erfolgt eine Öffnung des familialen Systems hin zur Gesamtgesellschaft. Die Folge der Selbstbefähigung, das sogenannte Empowerment, ist nicht nur eine stärkere Emanzipation, Selbstorganisation und Autonomie für die Eltern, sondern auch die Annahme frühzeitiger staatlicher und gesellschaftlicher Unterstützung. Dies steigert die Lebensqualität der gesamten Familie.

Die in den letzten vier Jahren entstandenen Gruppen für Mütter türkeistämmiger Herkunft mit einem oder mehreren behinderten Kindern fängt an, die Angebotslandschaft für Selbsthilfegruppen zu verändern. Seit Oktober 2013 gibt es zwei spezielle Selbsthilfegruppen für Angehörige von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Diabetes bzw. mit Epilepsie. Und seit Oktober 2014 existiert auch eine Vätergruppe für Väter türkeistämmiger Herkunft mit Kindern mit Behinderung. Weitere Angehörigen-Selbsthilfegruppen zu Autismus und Down-Syndrom sowie eine interkulturelle Müttergruppe sollen ab Oktober 2015 starten. Weitere Gruppen werden folgen.

„Mehr Wissen - Mehr Teilhabe - Mehr Gesundheit“

Im Kontext des Projektes „Mehr Wissen - Mehr Teilhabe - Mehr Gesundheit“ werden Informationsveranstaltungen und Hospitationen zum Thema „Behinderung und chronische Erkrankungen“ realisiert. Gerade die Hospitationen führen zum Abbau von Misstrauen gegenüber öffentlichen Institutionen. Vorhandene Vorstellungen einer Hospitalisierung des eigenen Kindes werden durch die Erfahrung, dass in den Institutionen durchaus eine zugewandte Förderung des Kindes stattfindet, ersetzt.

Weitere niedrigschwellige, interkulturelle Aufgabenfelder sind Beratung, Vermittlung und Begleitung zwischen Betroffenen und Gesundheitssystem bzw. Behörden, Durchführung von Informationsveranstaltungen, Führungen durch soziale Einrichtungen, Vorbereitung und Durchführung von gemeinsamen Freizeitangeboten, Durchführen von Projekten, wie Lese-Rechtschreibkurs für junge Erwachsene ohne Lese-Rechtschreibkompetenzen, Gruppenangebot für türkischsprachige Familien mit kommunikationsbeeinträchtigten Kindern. Durch die enge Zusammenarbeit mit Werkstätten für Menschen mit Behinderten und Unternehmervereinigungen gelang es, vier Menschen mit besonderen Bedürfnissen in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren.

Erstmals in Berlin wird auch ein Schulungsangebot für potentielle Ehrenamtliche mit Migrationsbiografie durchgeführt. Diese professionelle Form der Ehrenamtlichen-Rekrutierung ist erfolgreich: Der überwiegende Teil ist in verschiedenen Aufgabenfeldern des Vereins tätig geworden. Der nächste Kurs findet ab November 2015 statt.

Frau Bozdağ ist als 1. Vorsitzende InterAktiv e.V. Mitglied in verschiedenen Arbeitsausschüssen und Gremien: u.a. beim Landesbehindertenbeirat, beim Paritätischen Wohlfahrtsverband, dem Kindernetzwerk und beim Berliner Landesverband Selbsthilfe, dem Fachforum Migration und Behinderung der Arbeiterwohlfahrt (AWO), dem Behindertenbeirat Berlin Mitte sowie dem Fachbeirat Inklusive Schule.