(Erschienen in der Berliner Stimme Nr. 18 - 65. Jahrgang, 12. September 2015)
Mechthild Rawert: Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff kommt
Was lange währt, wird gut! Der Kabinettsentwurf des Pflegestärkungsgesetzes II (PSG II) liegt nun vor und die parlamentarische Debatte dazu ist voll im Gange. Dieses Gesetz wird die größte Reform der Sozialen Pflegeversicherung seit ihrer Einführung im Jahr 1995. Dafür hat die SPD viele Jahre hartnäckig gearbeitet und gekämpft. Intensive Debatten in der Politik, zwei hochkarätig besetzte ExpertInnenbeiräte und zwei umfangreiche Modellstudien haben den Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gründlich vorbereitet. Dieser bewirkt für die Pflegebedürftigen bedeutend mehr Bedarfsgerechtigkeit, mehr Teilhabe im Alltag und bessere Chancen für die Rehabilitation. Bisherige Benachteiligungen für Menschen mit kognitiven (z. B. demenziellen) oder psychischen Erkrankungen gegenüber somatisch Erkrankten heben wir damit endlich auf. Viele Gründe, uns zu freuen!
Mehr Gerechtigkeit und mehr Leistungen für Pflegebedürftige
Mit dem PSG II werden ab dem 1. Januar 2017 alle pflegebedürftigen Menschen in Deutschland automatisch in das neue Einstufungssystem der fünf Pflegegrade statt der bisherigen drei Pflegestufen übergeleitet. Vollzogen wird ein „einfacher Stufensprung“: Wer z. B. bis zu diesem Datum Leistungen der Pflegestufe 1 erhält, erhält ab dann automatisch den Anspruch auf Leistungen des Pflegegrads 2, aus der Pflegestufe 2 wird Pflegegrad 3.
Wichtig: Keine pflegebedürftige Person wird durch die Umstellung schlechter gestellt! Im Gegenteil: Demenziell Erkrankte werden sogar mit einem „doppelten Stufensprung“ übergeleitet und erhalten so bessere Leistungen und mehr Betreuung. Mit dem neuen Pflegegrad 1 schaffen wir einen völlig neuen Leistungsanspruch für bis zu 500.000 Menschen. Die Unterstützung durch die Pflegeversicherung beginnt deutlich früher als bisher, z. B. durch die finanzielle Unterstützung zur Verbesserung der Wohnsituation oder Betreuungsangebote wie z. B. gemeinsame Spaziergänge. Außerdem stärken wir die Pflege zu Hause nochmals deutlich: Wir erhöhen im Rahmen der neuen Pflegegrade die Leistungsbeträge für die häusliche Versorgung.
Neues bedarfsgerechteres Begutachtungsverfahren
Mit dem Neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ist ein viel differenzierteres Begutachtungsverfahren verbunden, welches den individuellen Bedarfen viel besser entspricht. Im Mittelpunkt stehen der Grad der Selbständigkeit und die individuellen Fähigkeiten der pflegebedürftigen Person in verschiedenen Bereichen. Der Blick rückt weg von den Defiziten und hin zu den noch bestehenden Fähigkeiten der/des Pflegebedürftigen, um die Selbständigkeit der Person zu erhalten oder wieder herzustellen.
Mit dem Neuen Begutachtungsverfahren stärken wir auch den Grundsatz „Rehabilitation vor Pflege“. Denn bis jetzt kommt die Rehabilitation pflegebedürftiger Menschen viel zu kurz. Die Gutachterinnen und Gutachter erhalten für alle Kassen bundeseinheitliche Vorgaben, um den Rehabilitationsbedarf umfassend und detailliert zu klären.
Individuelle Pflegeberatung wird verbessert
Die beste Leistung ist nichts wert, wenn sie nicht zum eigenen Bedarf passt oder mensch nicht ausreichend über die Inanspruchnahme informiert ist. Es müssen Qualitätsstandards für die Pflegeberatung entwickelt werden, die bei der Beratung einzuhalten sind. Wir erweitern den Anspruch auf Beratung durch die Pflegestützpunkte, durch die Pflegeberaterinnen und Pflegeberater: Erstmals erhalten auch Pflegende einen Anspruch auf Pflegeberatung, wenn die pflegebedürftige Person dem zustimmt.