Hauptmenü

Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff - Wie gelingt die Umsetzung?

Das Pflegeforum des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen am 8. September 2015

Das zum 1. Januar diesen Jahres in Kraft getretene Pflegestärkungsgesetz I war ein wichtiger Meilenstein dieser Legislaturperiode. Ein weiterer Meilenstein wird jetzt mit der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs im zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) in Angriff genommen. Bis jetzt stehen vor allem verrichtungsbezogene Beeinträchtigungen im Mittelpunkt der Begutachtung. Deswegen sind vor allem Menschen mit psychischen und kognitiven Erkrankungen, darunter demenzerkrankte Menschen, beim Zugang zu den Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung benachteiligt. Zuwenig wurde der Mensch als Individuum in seiner ganzheitlichen persönlichen Lebenssituation beachtet. Diese Gerechtigkeitslücke hat Auswirkungen auf die Verteilung der Mittel der sozialen Pflegeversicherung. Diese Gerechtigkeitslücke muss geschlossen werden.

Auf dieses zentrale Problem der Sozialen Pflegeversicherung wurde schon seit dem Zeitpunkt der Einführung 1995 hingewiesen. Seitdem haben sich zwei ExpertInnen-Beiräte damit beschäftigt, umfangreiche Studien in enger Zusammenarbeit mit der Pflegewissenschaft und dem Medizinischen Dienst als auch anderen VertreterInnen des Pflegebereichs zu erarbeiten, um so die realen Bedürfnisse der Betroffenen möglichst genau zu erfassen und gerechter zu gestalten.

Doch wie geht es nun weiter, jetzt, da der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff kurz vor der gesetzlichen Verabschiedung steht? Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) lud mich am 8. September 2015 zu einem Pflegeforum und zur Diskussion zur Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ein. Ich diskutierte mit AkteurInnen aus Politik, dem Bundesministerium für Gesundheit, verschiedenen Pflegekassen, LeistungserbringerInnen und VertreterInnen der Betroffenen und dem MDS darüber, wie eine Umsetzung aussehen kann. Mir geht es nicht nur um anstehende Umstellungsherausforderungen sondern vor allem um die Chancen zu mehr Gerechtigkeit, die durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff geschaffen werden. Diese dürfen nicht nur auf dem Papier stehen sondern müssen in der Gesellschaft auch verwirklicht werden.

Die neue Definition der Pflegebedürftigkeit: Ein Paradigmenwechsel hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit

Die Definition der Pflegebedürftigkeit war ein langwieriger Prozess - und auch mit dem PSG II sind die Reformen für eine gute Pflege nicht zu Ende. Bereits 2006 wurde die Neuentwicklung des Begriffs in Gang gebracht, unter Einbeziehung des MDS, der gesetzlichen Krankenkassen (GKVen), anderer Verbände und der Pflegewissenschaft. Die Meinungen eines breiten Spektrums an ExpertInnen flossen so in die Gestaltung ein. 10 Jahre wurde am neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff gearbeitet. Erreicht wurde eines wesentliches Ziel schon heute: Beim Pflegeforum war spürbar, die grundlegende Akzeptanz des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs ist über Verbands- und Parteigrenzen hinweg sehr hoch!

Es geht bei der Neudefinition um einen maßgeblichen Paradigmenwechsel: Der Grad der Selbstständigkeit wird in den Mittelpunkt gerückt. Statt eines defizitorientierten wird nun ein ressourcenorientierter, ganzheitlicher Blick auf den Menschen gerichtet. Mit dem Wandel von Pflegestufen zu Pflegegraden wird der einzelne Mensch in seiner individuellen Lebenssituation unterstützt. Um das zu verwirklichen, wurde die ambulante Pflege bereits im PSG I wesentlich gestärkt. Die Neudefinition behebt aber auch das Problem, dass Menschen mit Demenz vormals oft weit geringere Leistungsansprüche erheben konnten als physisch beeinträchtigte Menschen. Damit ist ein großer Schritt hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit in der Pflegeversicherung geschafft.

Doch wie wird dieses Konzept ausgestaltet? Und wie werden die zahlreichen Veränderungen vermittelt? Klare Botschaften und eine umfassende Informationsstrategie seitens der Bundesregierung, der Leistungserbringer aber auch der einzelnen Medizinischen Dienste und der Pflegekassen sind dringendst erforderlich. Nur so wird die hohe Akzeptanz, die beim Pflegeforum spürbar war, auch von den Bürgerinnen und Bürgern geteilt. Die sozialen Neuerungen müssen der Gesellschaft verständlich kommuniziert werden – darüber waren sich alle Anwesenden einig.

Im neuen PSG II sind Überleitungsregeln vorgesehen, damit die Umstellung reibungslos gelingen kann. Das ist im Interesse alle. Für die bereits jetzt eingestuften Pflegebedürftigen besteht ein Bestandsschutz. Schließlich soll die Umstellung keine Nachteile für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bringen, ebenso wenig wie für ambulante Dienste bzw. stationäre Pflegeeinrichtungen. Der MDS befürchtet einen - unnötigen - Anstieg der Anträge bei den „Altfällen“. Auch hier kommt es zentral auf die Vermittlung an - nur durch ausreichende Information kann sowohl das Vertrauen sichergestellt werden als auch Leistungsansprüche erkannt und somit neu in Anspruch genommen werden.

Vermittlung schafft Vertrauen

Das neue Pflegebedürftigkeitskonzept bringt viel Gerechtigkeit, aber auch viel Komplexität mit sich. Obwohl sichergestellt ist, dass niemand Leistungsansprüche verliert, existieren hier Befürchtungen. Hierauf müssen der Bund, die Länder und Kommunen, die LeistungsträgerInnen und LeistungserbringerInnen zielgenau eingehen. Erläutert werden muss auch das neue Begutachtungsassessment. Das Begutachtungsverfahren muss transparent, unkompliziert und leicht verständlich kommuniziert werden. So wird Vertrauen gestärkt. Gewünscht wird auch mehr Kooperation und Konsens zwischen allen Beteiligten. Stärker genutzt werden sollen auch Datenaustauschprogramme.

Wir wollen den „Pflege-TÜV“ weiterentwickeln. Mit dem beabsichtigten Qualitätsausschuss findet auch hier mehr Transparenz über die neuen Indikatoren statt.

Notwendig ist der Ausbau einer guten Beratungsinfrastruktur. Gute Beratungen sind essentiell, damit die vielen umfangreichen Leistungsansprüche nicht nur auf dem Papier stehen, sondern von allen auch entsprechend des individuellen Bedarfs genutzt werden können. Um diese Informationen individuell und flexibel anpassen zu können, sind alle AkteurInnen gefragt - auch die Kommunen.

Wir sind noch nicht am Ziel

Während der Diskussionsrunden war ausreichend Raum, Bedenken als auch Anregungen zu äußern, damit Pflege zukünftig noch gerechter gestaltet und für alle zugänglich gemacht werden kann.

Hingewiesen wurde auf die notwendige Steigerung der Wertschätzung - unter anderem durch eine bessere Bezahlung - von Pflegefachkräften im ambulanten Dienst als auch in den stationären Einrichtungen. Hinzu kommt, dass viele Pflegekräfte in ihrer Arbeitsumgebung physisch und psychisch überlastet sind, da im Personalschlüssel vieler Einrichtungen oft zu wenige Pflegefachkräfte vorgesehen sind. Hier sind vor allem auch die Länder gefordert.

Beide Herausforderungen, die des Imageproblems als auch des Personalmangels, führten in der Debatte zur Frage der künftigen Ausbildungsstruktur der Pflegeberufe. Ich unterstütze die geplante generalistische Pflegeausbildung. Mit dieser wollen wir die wirtschaftlichen und beruflichen Perspektiven für Auszubildende verbessern. Thematisiert wurde auch die voranschreitende Akademisierung. Mit der generalistischen Ausbildung wollen wir die Vielfalt der Einsetzbarkeit und die berufliche Flexibilität für Pflegekräfte stärken.

Wir müssen dem demografischen Wandel aktiv gestalten - auch in der Pflege. Wir wollen die vielen Ehrenamtlichen besser einbinden: Mit einer stärkeren Vernetzung von Profession und Ehrenamt kann das gelingen.

Auch die Finanzierung der Pflegeleistungen wurde angesprochen, das „Teilkasko-Prinzip“ in diesem Zusammenhang bemängelt. Aufmerksam gemacht wurde auf Lücken in der Leistungsverrechnung in Bezug auf Sozialhilfeempfangende in Wohngemeinschaften. Perspektivisch kann die Umwandlung der Sozialen Pflegeversicherung in eine Pflege-Bürgerversicherung maßgeblich zu einer sozial gerechten Finanzierung beitragen.

Im Zusammenhang mit Beratungen wurde das Thema der niedrigschwelligen Angebote aufgeworfen, die Pflegebedürftigen in der ambulanten Pflege zustehen. Es braucht mehr Forschungen über die große Vielfalt der Dienstleistungsangebote. Diese sollen die Lebensqualität vor Ort verbessern.

Anfang September habe ich im Rahmen meiner Reihe „Wohnzimmergespräche“ über die Vorteile der Hauswirtschaft diskutiert - für mich auch ein wichtiges Dienstleitungsangebot. Auch hier gilt es für Beschäftigte als auch für Pflegebedürftige das Prinzip Gerechtigkeit umzusetzen.

Gemeinsam für eine individuelle Gestaltung

Das dreiteilige Pflegeforums-Gespräch war durchzogen von einem Gedanken: Die Pflege muss in ihrer Fachlichkeit als auch in der Praxis gerechter gestaltet werden. Dies muss für Fachkräfte, für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen auch zu spüren sein. Es geht um die zentrale Botschaft des neu formulierten Pflegebedürftigkeitsbegriffs: Soziale Gerechtigkeit für Jeden und Jede auch in der Pflege. Damit ein selbstbestimmtes Leben sehr lange gelingen kann.