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Wohnzimmergespräch: Rechte von Menschen mit Behinderungen und pflegenden Angehörigen stärken

Jedes der für Merkzeichen oder Merkmale im Schwerbehindertenausweis vorgesehene Kästchen war ausgefüllt. Diese Merkzeichen beschreiben die Funktionsstörungen infolge einer Behinderung, die als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen bedeutsam sind. Als Nicht-Expertin war es mir gar nicht möglich, die Abkürzel in ihrer jeweiligen Bedeutung so schnell zu erfassen. Die Nacharbeit ergab, dass beispielsweise aG für außergewöhnliche Gehbehinderung, B für Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson, Bl für Blindheit, GI für Gehörlosigkeit, H für Hilflosigkeit steht.

Schwerbehinderte Menschen zu Hause zu unterstützen, ist schwere Arbeit und auch rechtlich eine höchst komplexe Angelegenheit. Das habe ich in meinem „Wohnzimmergespräch“ am 15. Januar, zu dem die 58-jährige Joanna G. FreundInnen und mich eingeladen hatte, eindringlich erfahren. Hintergrund der Einladung in ihre private Wohnung in Schöneberg ist ihr Wunsch nach Unterstützung, denn sie fühlt sich „allein gelassen und wie eingesperrt“. Seit 2008 ist sie für Jürgen G. fast die alleinige Bezugsperson, seit 2005 als Ehefrau, seit 2013 als Ex-Ehefrau. Ausnahme ist die Unterstützung, die sie von einem der Berliner Einzelanbieter für niedrigschwellige Betreuung, erhält, der an diesem Abend auch anwesend war.

Jürgen G. war schon bei der Heirat fast blind, erlitt 2008 einen schweren Schlaganfall, ist nun mehrfachbehindert und in der Pflegestufe 3 eingestuft. Trotz der Scheidung möchte sie selber „ihren Jürgen“ zu Hause pflegen, damit dieser eine würdevolle Pflege im vertrauten Umfeld erhält. Für Jürgen G. wird keine Tageseinrichtung in Anspruch genommen. Ein Pflegegutachten sei zuletzt vor einigen Jahren erstellt worden. Sie habe in den vergangenen Monaten bei ihrer Pflegekasse bereits mehrfach um Unterstützung gebeten, aber niemand kümmere sich. Dafür gäbe es „regen Kontakt“ mit dem Sozialamt, welches sie nun auch zu Entscheidungen zwingen wolle, die sie aber nicht möchte.

Joanna G. ist in Polen geboren, von Beruf Englisch-Lehrerin. Sie kann ihren Beruf aber nicht mehr ausüben und hat selber auch einen Schwerbehindertenausweis. Die jahrelange Pflege war und ist eine hohe physische und psychische Belastung. Sie sei nach nun fast 8 Jahren Pflege und Arbeit selbst mit ihren Kräften am Ende. Sie beklagt, dass es zu wenige Angebote gibt, um sich als Angehörige mit Menschen in der gleichen Situation auszutauschen.

Das Bundesteilhabegesetz

Über 10 Millionen Menschen in Deutschland haben eine anerkannte Behinderung. Damit sie gleichberechtigt am Leben teilhaben können, hat ihnen die Große Koalition das sogenannte Bundesteilhabegesetz versprochen. Meiner Information nach soll Anfang Mai ein entsprechender Gesetzesentwurf im Bundeskabinett verabschiedet werden.

Die Stärkung des Wunsch- und Wahlrechts im Hinblick auf eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf am gesellschaftlichen Leben ist hier ein hoher Wert und wird auch von der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) eingefordert. Dazu gehört auch die Entscheidung über den eigenen Wohnort. Auch Menschen mit einer Schwerstmehrfachbehinderung und hohem Unterstützungsbedarf sollen, soweit es ihnen möglich ist, selbst entscheiden können, wie und wo sie leben möchten. Bedeutsam sind dabei auch individuelle Hilfen wie die persönliche Assistenz durch das Persönliche Budget.

Hinsichtlich der Sicherung des Rechts auf Selbstbestimmung für Personen mit hohem Unterstützungsbedarf gibt es je nach Art und Schwere der Behinderung unterschiedliche Herangehensweisen. Eine bedeutende Rolle spielt hierbei sicherlich die Frage, ob der- oder diejenige in der Lage ist, eigene Bedürfnisse und Wünsche in irgendeiner Form zu artikulieren. Oft sind es nahe Angehörige oder Betreuungspersonen, die die oft sehr subtilen Zeichen dieses Menschen verstehen und zu deuten wissen. Zum Teil gibt es aber bereits auch wissenschaftlich erforschte Methoden der Kommunikation mit Menschen, von denen man vor kurzem noch dachte, sie könnten gar nicht kommunizieren. So oder so gilt es, herauszufinden, was der jeweilige Mensch sich für sein Leben wünscht und braucht, um seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend an der Gesellschaft teilhaben zu können.

Wer sorgt für soziale Teilhabe für Menschen mit Behinderungen und für ihre Angehörigen?

Frau G. möchte unbedingt, dass ihr Ex-Mann auch in Zukunft im vertrauten häuslichen Umfeld bleiben kann. Da ich aufgrund der munteren Diskussionsbeiträge der Anwesenden nicht so ohne weiteres alles vollumfänglich aufnehmen konnte, habe ich zugesagt, dass wir uns zu einem ruhigeren Nachgespräch treffen werden. Ich wünsche mir, dass ich bei der Klärung und Verbesserung der persönlichen Situationen beitragen kann.

Ich danke Joanna und Jürgen G. recht herzlich für ihre Gastfreundschaft.