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Wahlen als fundamentales Recht der Demokratie - Ergebnisse der „Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen“

„Jeder Mensch muss die Chance haben mitbestimmen zu können, was ihn bestimmt. Dabei ist die Berechtigung zu wählen in einer Demokratie das fundamentalste Recht.“ betonte Andrea Nahles, die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, zu den Erkenntnissen der „Studie zum aktiven und passiven Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen“. Leider bleibt dieses Recht in Deutschland aber 84.550 Menschen mit Behinderungen verwehrt. 

Bundesministerin Andrea Nahles fordert, dass ein Wahlrechtssauschluss zukünftig nur nach bundesweit strengen und einheitlichen Maßnahmen im Einzelfall möglich sein darf - und ich unterstütze diese Forderung sehr. Auch ich möchte ein inklusives Wahlrecht, möchte, dass - unabhängig von einer Behinderung ja oder nein - alle Menschen, die in der Lage sind, an der Wahl teilzunehmen, auch wählen dürfen. Barrierefreiheit ist auch beim Wahlrecht zu schaffen. Wählen ist ein BürgerInnenrecht.

Vorreiter Nordrhein-Westfalen

Bundesweit einmalig ist das im Juni 2016 vom nordrhein-westfälischen Landtag im Juni 2016 verabschiedete „Erste allgemeine Gesetz zur Stärkung der Sozialen Inklusion in Nordrhein-Westfalen" (Inklusionsstärkungsgesetz, ISG). Die Beteiligungsrechte von Menschen mit Behinderung werden gestärkt. Bislang sind Menschen unter vollständiger Betreuung vom Wahlrecht ausgeschlossen. Mit dem Inklusionsstärkungsgesetz NRW (ISG) werden künftig auch diese bei Kommunal- und Landtagswahlen in NRW wählen dürfen. Diesen Schritt begrüße ich sehr! Zudem erhalten sehbehinderte und blinde Menschen einen Rechtsanspruch, durch Wahlschablonen ihr Wahlrecht selbstständig und unabhängig von fremder Hilfe wahrzunehmen.

Entscheidungs- und Wahlassistenzfähigkeit von Menschen mit Behinderungen

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schützt mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art.38 Abs.1 GG) vor einem unberechtigten Ausschluss vom Wahlrecht. Eine Abweichung davon bedarf eines zwingenden Grundes, der genauso relevant wie der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl sein muss. Solch ein Grund liegt beispielsweise in der Sicherung der Funktionsfähigkeit der Wahl, als Ausdruck politischer Selbstbestimmung, vor. Wenn eine Person als entscheidungsunfähig ausgewiesen wird, ist sie von der Teilnahme an einer Wahl ausgeschlossen. Aus psychologischer Sicht bedeutet Entscheidungsunfähigkeit, dass die Betreffenden unfähig sind zu verstehen, einen Entscheidungsprozess durchzuführen. In solchen Fällen kann eine Wahlentscheidung nicht mehr, wie vom demokratischen Prinzip und dem Sinn der Wahl vorausgesetzt, als ein Akt demokratischer Selbstbestimmung angesehen werden.

Die Entscheidungsfähigkeit einer Person mit Behinderung ist auch eine obligatorische Bedingung für die (Wahl-)Assistenzfähigkeit. Assistenz bei der Wahl ist die Unterstützung in der praktischen Durchführung des Wahlaktes als letztendliche Realisierung einer bereits selbstständig getroffenen Wahlentscheidung der Person mit Behinderung. Die Wahlentscheidung darf aber nicht von der Wahlassistenz abgenommen oder massiv beeinflusst werden, da es sich dann um eine rechtswidrige Stellvertreterwahl handelt. Diese entmündigt die Betreffenden und beraubt sie ihrer freien Willensentscheidung. Bei der Wahlassistenz besteht demnach jederzeit das Risiko, dass die Grenze zwischen Wahlhilfe und Stellvertreterwahl überschritten werden kann.

Ungleichmäßige Verteilung der Wahlausschlüsse in Deutschland

Einen großen Anteil an der Gesamtzahl der Wahlausschlüsse nehmen eben diese 81.220 Menschen mit Behinderungen ein, die dauerhaft eine Vollbetreuung erhalten. Die andere Gruppe, mit einer bundesweiten Anzahl von 3.330 Personen, bilden schuldunfähige StraftäterInnen, die sich in einer psychiatrischen Klinik befinden.

Ein auffälliges Ergebnis der Studie ist, dass die Gesamtzahl der Wahlausschlüsse in Deutschland nicht gleichmäßig verteilt ist. Im Bundesland Bayern gibt es beispielsweise pro 100.000 Einwohner etwa 26-mal mehr Menschen mit Behinderungen, die nicht an Wahlen teilnehmen dürfen, als in Bremen.

Bei diesen Zahlen stellt sich folgerichtig die Frage, wie eine solche Disproportionalität zwischen den Bundesländern entstehen kann. Als mögliche Ursachen nennt die Studie Unterschiede der Länder hinsichtlich der Gutachtertätigkeit, Rechtsprechung oder auch Verteilung von Krankheitsbildern.

Interessant ist ebenfalls die Aufschlüsselung der Wahlausschlüsse nach soziodemografischen Merkmalen. Bei den vollbetreuten Menschen mit Behinderungen gibt es ein eher ausgewogenes Verhältnis zwischen Frauen und Männern, dagegen aber höhere Fallzahlen bei über 70jährigen Personen. Die schuldunfähigen Straftäter sind zu einem sehr großen Anteil männlich (92,1 %), ledig und durchschnittlich im mittleren Alter.

Wahlfähigkeit aus psychologischer Sicht

Um die möglicherweise doch vorhandene Wahlfähigkeit der von Wahlen ausgeschlossenen Personengruppen zu ermitteln, wurden psychologische Interviews geführt.

Bei 80 Prozent der schuldunfähigen StraftäterInnen nach §13 Nr. 3 BWG wurde erkannt, dass kein begründeter Zweifel an einer normalen Fähigkeit zum Treffen rationaler und komplexer Entscheidungen besteht. Von dieser Gruppe wurde der Wahlausschluss als ungerecht und nicht nachvollziehbar kritisiert, da er für die Betroffenen im Freiheitsentzug eine „doppelte Entrechtung“ bedeute.

Für die nach §13 Nr. 2 BWG von Wahlen ausgeschlossenen Menschen mit Behinderungen gilt, dass ein bestehendes dauerhaftes Betreuungsverhältnis nicht unbedingt gleich zu setzen ist mit einer grundlegenden Entscheidungsunfähigkeit. Eine Minderheit der untersuchten Fälle wäre nach einer Fremd- und Selbsteinschätzung sogar in der Lage ohne Assistenz an einer Wahl teilzunehmen. Dem steht eine größere Anzahl gegenüber, die ebenfalls, mit individuell abgestimmten Unterstützungsmaßnahmen, an Wahlen teilnehmen könnten. 

Eine weitere Erkenntnis der Studie ist, dass die Bestellung von BetreuerInnen in allen Angelegenheiten für Menschen mit Behinderungen nur noch äußerst selten erfolgt und auch immer seltener angeordnet wird. Viel mehr gibt es vielerorts einen zunehmenden Trend die Aufgabenkreise soweit wie möglich einzeln aufzulisten. Ebenso soll nur im Ausnahmefall eine Betreuung in allen Angelegenheiten eintreten.

Unterstützungsbedarfe zur politischen Partizipation

Im Rahmen der Studie wurden die Betroffenen befragt nach ihren Unterstützungs- und Assistenzbedarfen befragt, die für ihre Teilnahme an Wahlen hilfreich und notwendig wären. Hier wurde ein ausgeprägter und breit gefächerter Bedarf an Wahlassistenzsystemen deutlich. Etwa drei Viertel der Befragten wünschten sich verschiedene Formen von Unterstützung für den Fall, dass sie das Wahlrecht ausüben dürften. Die konkreten Unterstützungsbedarfe beziehen sich mehrheitlich im Wesentlichen auf vier Bereiche:

  • Möglichkeiten für die Stimmabgabe in der eigenen Wohnumgebung (Briefwahl, mobile Wahllokale, aufsuchende „Wahlkabine“),
  • konkrete persönliche Hilfestellung bei der praktischen Stimmabgabe durch aufsuchende WahlhelferInnen (Begleitung zur Wahlkabine, zur Wahlurne, Falten des Wahlzettels, assistiertes Ankreuzen) und vorheriges Training der Handlungsschritte bei der Stimmabgabe,
  • angepasste Wahlbenachrichtigungen und –informationen (große Schrift, Einfache Sprache, bebildert)
  • Veranstaltungen der politischen Bildung (einfach verständliche Informationen über Demokratie, Wahlsystem, politische Strukturen und Parteien).
  • Weitere Nennungen: Wahlschablonen, barrierefreier Zugang, Gebärdensprache und gestütztes Zeigen
  • Von ein Drittel der Befragten wurde die Möglichkeit der über elektronische Medien (am PC, über das Internet, mit Kommunikations- und Vorlesehilfen) nachgefragt, die in Deutschland derzeit überwiegend nicht zulässig wären.

Wahlausschluss und -assistenz im internationalen Blick

Die Kommission der Europäischen Union ergänzte bereits 2011 ihren „Code of Good Practice in Electoral Matters“. Der Hinweis besagt, dass Ausschlüsse vom aktiven und passiven Wahlrecht nur durch eine individuelle Gerichtsentscheidung ausgesprochen werden dürfen und auch nur aufgrund einer nachgewiesenen geistigen oder psychischen Behinderung.

Laut der Rechtsprechung der Europäischen Menschenrechtskonvention bedarf es eines nationalen Gesetzes, das Inhalt und Grenzen der Wahlassistenz konkretisiert. Dieses Gesetz kann dann auch bei einer einzelfallbezogenen, richterlichen Entscheidung im Betreuungsverfahren eine Regelung treffen, ob die Betroffenen assistenzfähig sind oder nicht. Assistenzunfähigkeit wäre zum Beispiel begründet, wenn die Betroffenen wegen ihrer kognitiven Fähigkeiten trotz menschlicher, technischer oder medizinischer Hilfsmittel keinen eigenen Willen bilden oder Entscheidungen treffen könnten.

Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 hat leider international noch keine Reformbewegung in den Vertragsstaaten hinsichtlich des inklusiven Wahlrechts ausgelöst. Die Staaten, die derzeit ein inklusives Wahlrecht haben, hatten dieses auch schon vor Verabschiedung der UN-BRK. Nach 2006 hat nur eine geringe Staatenanzahl auf ein unbedingt inklusives Wahlrecht umgestellt.

14 EU-Mitgliedstaaten zeigen aber bereits, wie die Zubilligung des Wahlrechts an Menschen mit Behinderungen funktionieren kann. Entweder ist dort das Wahlrecht unabhängig von der Recht- und Handlungsfreiheit bzw. Betreuung der Betroffenen oder der letztendliche Wahlausschluss beruht auf einer richterlichen Entscheidung.

Handlungsempfehlungen der Studie

Von einer ersatzlosen Streichung des §13 Nr. 2 im Bundeswahlgesetz wird in der Studie abgeraten. Wenn dies doch geschehen sollte, müsse ein kompensatorisches Assistenzgesetz etabliert werden, dass Grenzen der Wahlassistenz aufzeigt. Außerdem solle dahingehend eine Strafvorschrift in das Strafgesetzbuch aufgenommen werden, die eine Verfälschung der Stimmabgabe in Fällen assistierter Wahlhilfe unter Strafe stellt.

Des Weiteren könnte für den Fall einer Betreuerbestellung in allen Angelegenheiten für Menschen mit Behinderungen den Betreuungsrichtern mehr Ermessensspielraum eingeräumt werden. Dafür bedarf es nur einer geringen Korrektur des § 309 Abs. 1 im Familienverfahrensgesetz. Eine entsprechende Anpassung wäre ebenfalls für den Wahlrechtsausschluss nach §13 Nr. 3 BWG zu überlegen, da laut klinisch-psychologischen Teil der Studie keine begründeten Zweifel an der Fähigkeit zum Treffen rationaler und komplexer Entscheidungen bestanden haben.

Die Studie ist ein Forschungsbericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und wurde in Kooperation mit den Universitäten in Greifswald und Salzburg, der Technischen Universität Chemnitz sowie der Hochschule Neubrandenburg erhoben. Schwerpunkte sind die Voraussetzungen und Grenzen der in §13 Nr. 2 und 3 im Bundeswahlgesetz (BWG) geregelten Wahlausschlüsse. Dabei wurde ein interdisziplinärer Ansatz gewählt, der  sozialwissenschaftliche Aspekte und völker- und verfassungsrechtliche Forschungen umfasst.