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27. Januar 2017: Bundestag gedenkt der Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde

 Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“ (Max Mannheimer)

Am Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz gedachte der Deutsche Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus. Am 27. Januar diesen Jahres stand die Gedenkstunde im Plenarsaal im Zeichen der Erinnerung an die Opfer der sogenannten Euthanasie-Morde des NS-Regimes. Dem sogenannten „Euthanasie-Programm“ der Nationalsozialist*innen sind schätzungsweise 300.000 Menschen mit körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen oder unheilbaren Krankheiten zum Opfer gefallen.

Nach der Begrüßungsansprache von Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert las Sebastian Urbanski, Synchronsprecher und Schauspieler im Ensemble des Berliner Theaters RambaZamba, den „Opferbrief“ des damals 41-jährigen Ernst Putzki vom 3. September 1943 vor. Er schrieb ihn aus der Anstalt Weilmünster an seine Mutter. Er schrieb unter anderem: „Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann. Von den Warsteinern, die mit mir auf diese Siechenstation kamen, leben nur noch wenige. Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. Wöchentlich sterben rund 30 Personen.“ Putzki wurde am 9. Januar 1945 in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. Sebastian Urbanski hat ein Buch über sein Leben mit dem Down-Syndrom verfasst.

Die Gedenkreden hielten Verwandte von zwei Opfern der „Euthanasie“-Morde: Dr. Hartmut Traub erinnerte an seinen 1941 in Hadamar ermordeten Onkel, Benjamin Traub. Sigrid Falkenstein berichtete vom Schicksal ihrer Tante, Anna Lehnkering, die in der Tötungsanstalt Grafeneck bereits 1940 getötet wurde. Sie verschwieg dabei auch nicht das sehr lange Schweigen in ihrer Familie und rief in ihrer Gedenkrede dazu auf, die „Euthanasie“-Opfer in das familiäre und kollektive Gedächtnis zu holen: „Es wäre zugleich ein Beitrag zur Entstigmatisierung von Menschen, die heute von Behinderung oder psychischer Erkrankung betroffen sind.“

Den musikalischen Rahmen der Gedenkstunde bildeten Kompositionen von Norbert von Hannenheim, dessen Werk von den Nationalsozialisten als „entartet“ eingestuft wurde. Der Komponist Norbert von Hannenheim (1898 bis 1945) war 1944 nach einem schizophrenen Anfall in eine Berliner Heilanstalt eingewiesen worden und starb im September 1945 in der Anstalt Meseritz-Obrawalde (heute Polen). Seine Werke wurden aufgeführt von Felix Klieser (Horn) und Moritz Ernst (Klavier).

An der Gedenkstunde nahmen neben den Bundestagsabgeordneten auch Vertreter*innen der Verfassungsorgane sowie 80 junge Menschen der diesjährigen Jugendbegegnung des Bundestages teil. Die Jugendlichen setzen sich in Deutschland und seinen Nachbarländern, vor allem in Polen und Frankreich, mit der Geschichte des Nationalsozialismus auseinander oder engagieren sich gegen Antisemitismus und Rassismus. Noch bis zum 10. Februar zeigt der Deutsche Bundestag im Paul-Löbe-Haus die Ausstellung „Wir sind viele“, für die der Künstler Jim Rakete u.a. Menschen mit Behinderungen und mit psychischen Beeinträchtigungen oder mit unheilbaren Krankheiten porträtiert hat. Kommen Sie vorbei!

Seit 1996 gedenkt der Bundestag jährlich am 27. Januar, dem Jahrestag der Befreiung des deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Soldaten, der Opfer des Nationalsozialismus. Dieses Gedenken ist vor 21 Jahren durch den damaligen Bundespräsident Roman Herzog initiiert worden.

„Wir haben es nicht gewusst“ – „Wir haben es gewusst“

Beklemmend die letzten Worte der Rede von Dr. Hartmut Traub, Studiendirektor am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Essen, in der Gedenkstunde des Bundestages für die Opfer des Nationalsozialismus „Über der Stadt Hadamar stand über sechs Monate lang – gut sichtbar – die dunkle Rauchsäule des Krematoriums der Tötungsanstalt auf dem Mönchberg.“ Er erinnerte an das Schicksal seines Onkels Benjamin Traub, der 1941 in der nordhessischen Stadt Hadamar im Rahmen des nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programms ermordet worden war – ebenso wie 10.112 andere Männer, Frauen und Kinder, die im Vernichtungskeller von Hadamar von Januar bis August 1941 mit Gas umgebracht und in den beiden Öfen des Krematoriums verbrannt wurden.

Bereits ein Jahr zuvor wurde Anna Lehnkering in der Tötungsanstalt Grafeneck bei Reutlingen ein Opfer der sogenannten „Aktion T4“, benannt nach der Planungszentrale der NS-„Euthanasie“ in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Anna Lehnkering war die Tante von Sigrid Falkenstein.

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert erinnerte in seiner Gedenkrede daran, dass vor fast genau 75 Jahren 15 hochrangige Vertreter des Nazi-Regimes zur „Wannsee-Konferenz“ zusammenkamen, um mit unfassbarer Menschenverachtung den millionenfachen Mord an europäischen Juden und auch anderen Gruppen unschuldiger Menschen möglichst effizient zu organisieren. „Der Millionen Entrechteter, Gequälter und Ermordeter gedenken wir heute: der Sinti und Roma, der Millionen versklavter Slawen, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, der Homosexuellen, der politischen Gefangenen, der Christen, der Zeugen Jehovas, all derer, die wegen ihrer religiösen und politischen Überzeugungen von der nationalsozialistischen Ideologie zu Feinden erklärt, verfolgt und vernichtet wurden. Wir erinnern auch an diejenigen, die mutig Widerstand leisteten.“

In diesem Jahr würde insbesondere der 300.000 zumeist zwangssterilisierten und auf andere Weise gequälten und dann ermordeten Opfer des „Euthanasie“-Programms, der Kranken, Hilflosen und aus NS-Sicht „Lebensunwerten“ gedacht. Nennenswerter Widerstand dagegen sei allein von Menschen ausgegangen, deren „Mitgefühl stärker war als ihre Berührungsangst gegenüber Menschen mit Behinderungen“. Es bleibe die quälende Frage, was hätte verhindert werden können, wenn mehr Menschen aufbegehrt und zu ihren eigenen ethischen Prinzipien gestanden hätten.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Selbstkritisch merkte Lammert an, dass der Bundestag erst 2007 das Zwangssterilisationsgesetz des NS-Regimes geächtet und sich nicht vor 2011 habe durchringen können, dem Gedenken an die NS-Krankenmorde mit dem erst 2014 eröffneten Gedenk- und Informationsort an der Tiergartenstraße 4 in Berlin einen angemessenen Rahmen zu verleihen.

Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“) muss nach den Worten Lammerts „kompromisslose Richtschnur unseres Handelns sein und bleiben, ein kategorischer Imperativ, um nie wieder zuzulassen, dass Menschen ausgegrenzt, verfolgt und in ihrem Lebensrecht beschnitten werden“.

„Die Erinnerung wachhalten“

„Es ist an uns Nachgeborenen, die Erinnerung wachzuhalten, denn es gibt kein Verständnis von Gegenwart und Zukunft ohne Erinnerung an die Vergangenheit“, sagte Sigrid Falkenstein, die 2003 zufällig den Namen ihrer Tante Anna Lehnkering, Jahrgang 1915, auf einer Liste von Opfern der „Euthanasie“ im Internet fand. Die Berliner Lehrerin konfrontierte ihren Vater mit dieser Entdeckung und erfuhr: „Sie wurde irgendwann in den dreißiger Jahren in irgendeine Anstalt gebracht und ist irgendwo während des Krieges gestorben.“ Fassungslos über dieses scheinbare Vergessen habe sie sich auf Spurensuche gemacht und Annas Biografie aus dem bruchstückhaften Familiengedächtnis und vor allem mit Hilfe von Patientenakten und amtlichen Dokumenten rekonstruiert, berichtete Sigrid Falkenstein. Die Mitbegründerin des Runden Tisches zur Umgestaltung des Erinnerungsortes Tiergartenstraße 4 veröffentlichte 2012 unter Mitarbeit von Prof. Dr. Dr. Frank Schneider das Buch „Annas Spuren“.

„Jahrzehntelang vom öffentlichen Gedenken ausgeschlossen“

Während die Opfer, die Überlebenden und ihre Familien in beiden deutschen Staaten weiterhin diskriminiert und stigmatisiert worden seien, hätten die meisten Täter in den meisten Fällen ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen können. „Die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung geschah äußerst stockend und völlig unzureichend. Die Opfer von „Euthanasie“ und Zwangssterilisation waren nicht nur jahrzehntelang vom öffentlichen Gedenken ausgeschlossen. Ihre Anerkennung als NS-Verfolgte und Gleichstellung mit anderen Verfolgtengruppen wird ihnen bis heute versagt“, betonte Falkenstein.

Inzwischen gebe es jedoch zahlreiche positive Anzeichen für eine Änderung der deutschen Erinnerungskultur. Auch in der Politik finde die Forderung nach Würdigung der „Euthanasie“-Opfer zunehmend Gehör. Damit werde den vielen namenlosen Opfern etwas von ihrer Identität und Würde zurückgegeben: „Ein Akt später Gerechtigkeit – für die Opfer nur noch ein symbolischer Akt.“

(Der Artikel basiert auf Veröffentlichungen des Deutschen Bundestages)